Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 408

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Opfer, denn es versteht sich, daß jede Erkenntnis mit Opfern verknüpft ist. Je mehr Opfer, um so mehr werden sich zu uns scharen. (Lebhafter Beifall.)

Aber dieses Urteil hat auch noch eine politische Bedeutung. Sie sehen, daß wir seit dem berühmten Liebknechtschen Hochverratsprozeß[1] kein solches Urteil mehr erlebt haben. Damals mußte man sich noch unter die Fittiche des Hochverratsparagraphen flüchten, heute genügt schon der Paragraph 110, um auf ein annähernd gleiches Strafmaß zu kommen.[2]

Dieses Urteil hat, wie mein Verteidiger Dr. Rosenfeld ganz richtig ausführte, die Reform des Strafgesetzbuches vorweggenommen, das eine ausgesprochene Klassenrichtung gegen die Sozialdemokratie hat. Diese Gerichtspraxis ist ein würdiges Seitenstück zu den fortgesetzten Attentaten auf das Koalitionsrecht und die Verfolgung unserer Presse, über die im letzten Jahre nicht weniger als sechzig Monate Gefängnis verhängt wurde. („Sehr richtig!“)

Diese Zeichen der immer stärker werdenden Reaktion geben uns die Lehre, daß wir unsere Aufmerksamkeit verdoppeln und daß wir zum Angriff übergehen müssen, weil wir uns nicht alles gefallen lassen dürfen. (Stürmischer Beifall.) In dieser Beziehung gibt uns der Prozeß noch eine andere heilsame Lehre, er beweist sich als ein Teil jener Kraft, die stets das Böse will und doch das Gute schafft. Der Staatsanwalt hat die Höhe des Strafmaßes damit begründet, daß er sagte, ich hätte den Lebensnerv des heutigen Staates treffen wollen.

Sie hören, die Agitation gegen den heutigen Militarismus ist ein Angriff auf den Lebensnerv des Staates. Sie sehen, der Lebensnerv unseres heutigen Staates ist nicht der Wohlstand der Massen, nicht die Liebe zum Vaterland, nicht die geistige Kultur, nein, es sind die Bajonette! Das zeigt doch in viel krasserer und aufreizenderer Weise, als ich es könnte, daß ein Staat, dessen Lebensnerv das Mordwerkzeug ist, daß dieser Staat dazu reif ist, daß er zugrunde geht. (Stürmischer Beifall.) Dieses offene Bekenntnis des Herrn Staatsanwalts wollen wir festhalten und als wichtigste Lehre mit nach Hause nehmen. Der Lebensnerv des Staates durch seine eigenen offiziellen Vertreter bloßgelegt! Gegen

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[1] Vom 9. bis 12. Oktober 1907 war auf Betreiben des preußischen Kriegsministers Karl von Einem gegen Karl Liebknecht ein Hochverratsprozeß wegen seines Buches „Militarismus und Antimilitarismus unter besonderer Berücksichtigung der internationalen Jugendbewegung“ angestrengt worden. Liebknecht wurde zu 11/2 Jahren Festung verurteilt, die er in Glatz verbrachte.

[2] Paragraph 110 des Strafgesetzbuches für das Deutsche Reich besagte, daß derjenige, der öffentlich – mündlich oder schriftlich – zum Ungehorsam gegen die Gesetze der herrschenden Ordnung auffordert, mit Geldstrafe oder mit Gefängnis bis zu zwei Jahren bestraft wird.