Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 304

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gekannten Maße Bewußtsein in den proletarischen Klassenkampf hineingetragen, ihm Zielklarheit und Tragkraft verliehen. Sie hat zum erstenmal eine dauernde Massenorganisation der Arbeiter geschaffen und dadurch dem Klassenkampf ein festes Rückgrat gegeben. Es wäre aber ein verhängnisvoller Irrtum, sich nun einzubilden, daß seitdem auch alle geschichtliche Aktionsfähigkeit des Volkes auf die sozialdemokratische Organisation allein übergegangen, daß die unorganisierte Masse des Proletariats zum formlosen Brei, zum toten Ballast der Geschichte geworden ist. Ganz umgekehrt. Der lebendige Stoff der Weltgeschichte bleibt trotz einer Sozialdemokratie immer noch die Volksmasse, und nur wenn ein lebhafter Blutkreislauf zwischen dem Organisationskern und der Volksmasse besteht, wenn derselbe Pulsschlag beide belebt, dann kann auch die Sozialdemokratie zu großen historischen Aktionen sich tauglich erweisen.“[1] (Leipziger Volkszeitung vom 27. Juni.)

Weil ich also die sozialdemokratische Organisation für das Rückgrat des Klassenkampfes erkläre, für das denkende Hirn der Masse, aus dem Bewußtsein und Zielklarheit der Bewegung fließen, so schließt Kautsky, ich erkläre jegliche Organisation für überflüssig, ja hemmend. Weil ich sage, zu jeder großen Klassenaktion gehören nicht nur Organisierte als Vorhut, sondern auch Unorganisierte als Nachhut, deduziert Kautsky, ich wolle nur mit Unorganisierten Aktionen machen. Weil ich wörtlich sage: „In Belgien lassen die gewerkschaftlichen wie die politischen Organisationen so ziemlich alles zu wünschen übrig, auf jeden Fall können sie sich mit den deutschen nicht entfernt messen. Und doch (also trotzdem!) kommt seit 20 Jahren ein imposanter Wahlrechtsstreik nach dem andern zustande“[2], bringt Kautsky es fertig, mir wörtlich die umgekehrte Behauptung zuzuschreiben, daß in Belgien „die Massenaktionen gerade dadurch aufs kräftigste gedeihen, weil seine Organisationen so ziemlich alles zu wünschen übrig ließen“[3].

Man sieht, das Original meiner Auffassung gleicht in allen Stücken dem Kautskyschen Konterfei ungefähr so wie die marxistische Theorie und Taktik den üblichen revisionistischen Darstellungen. Wie sich unsere Revisionisten erst einen Popanz der „Verelendungstheorie“, der „reinen Negation“, der Verachtung der „praktischen Arbeit“ zurechtmachen, um an ihm mit Genuß den scharfen Stahl ihrer Kritik zu erproben, ebenso

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[1] Siehe Rosa Luxemburg: Taktische Fragen. In: GW, Bd. 3, S. 252. – Hervorhebung nur hier.

[2] Siehe ebenda, S. 254. – Hervorhebung und Bemerkung in der Klammer nur hier.

[3] Siehe Karl Kautsky: Nachgedanken zu den nachdenklichen Betrachtungen. In: Die Neue Zeit, 31. Jg. 1912/13, Zweiter Band, S. 538.