Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 306

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mehrfach vorgekommen wäre. Politische und ökonomische Streiks, Massenstreiks und partielle Streiks, Demonstrationsstreiks und Kampfstreiks, Generalstreiks einzelner Branchen und Generalstreiks einzelner Städte, ruhige Lohnkämpfe und Straßenschlachten, planmäßig hervorgerufene und in voller Disziplin abgebrochene Massenstreiks und spontane Ausbrüche – alles das lief in Rußland in der Revolutionsperiode durcheinander, nebeneinander, durchkreuzte sich, flutete ineinander über. Von irgendeiner besonderen Art des „russischen Massenstreiks“ kann nur reden, wer die Tatsachen entweder nicht kennt oder – sie ganz vergessen hat.

Vor wenigen Jahren gehörte Kautsky selbst noch zu denjenigen, die man von der rechten Seite als „Revolutionsromantiker“, als „Russenschwärmer“ denunzierte. Heute bekämpft er andere als „Russen“ und gebraucht die Bezeichnung „russische Methode“ als Inbegriff der Unorganisiertheit, der Primitivität, des Chaotischen und Wilden im Vorgehen. In seiner Darstellung erscheint der russische Arbeiter als der tiefststehende, „der bedürfnisloseste der europäischen Arbeiter“, der ohne Erwerb und Unterstützung länger aushalten könne „als irgendeine andere Arbeiterschaft des kapitalistischen Europas“.[1] Ich muß wieder wie in unserer Auseinandersetzung 1910[2] Kautsky entgegenhalten, daß seine Schilderung der russischen Arbeiterschaft und der russischen Revolution ein Pasquill auf das dortige Proletariat ist. Bis jetzt war es nur den Anarchisten vorbehalten, zu glauben, daß der höchste revolutionäre Idealismus aus der tiefsten materiellen Degradation, aus der Verzweiflung und dem Gefühl, daß „man nichts zu verlieren habe“, emporblüht. Jetzt will Kautsky die ganze revolutionäre Aktion des russischen Proletariats als einen Verzweiflungsakt von Heloten hinstellen, die deshalb kämpften, weil sie „nichts zu verlieren hatten“. Er vergißt, daß man mit Kulis, die keine Bedürfnisse haben, die mit einer Brotrinde und mit dem Sonnenschein zufrieden sind, keine Kampagne für den Achtstundentag durchführen kann, wie wir sie 1905 in Petersburg erlebt haben[3], keinen Kampf um politische Rechte und um moderne Demokratie, daß man mit einem solchen Proletariat keine regelrechten Gewerkschaftskämpfe auszufechten

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[1] Siehe Karl Kautsky: Nachgedanken zu den nachdenklichen Betrachtungen. In: Die Neue Zeit, 31. Jg. 1912/13, Zweiter Band, S. 560.

[2] Während der Wahlrechtskämpfe im Frühjahr 1910 hatte es zwischen Rosa Luxemburg und Karl Kautsky heftige Auseinandersetzungen über die Frage des Massenstreiks gegeben. Siehe dazu GW, Bd. 2, S. 344–377 u. 378–420.

[3] Die Arbeiter Petersburgs und anderer Städte hatten im November 1905 auf revolutionärem Wege den Achtstundentag in den Betrieben eingeführt.