Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 307

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und moderne Gewerkschaftsorganisationen auszubauen vermag, wie dies 1905 bis 1907 in ganz Rußland getan wurde, daß man ein solches Proletariat nicht für die Ziele des internationalen Sozialismus, für Akte der höchsten Klassensolidarität, für Wunderwerke des proletarischen Idealismus begeistern kann, wie sie in Rußland bis auf den heutigen Tag an der Tagesordnung sind. Andererseits konnte Kautsky schon aus einfachen Zeitungsmeldungen entnehmen, wie falsch seine Behauptung ist, in Rußland sei es „seitdem bis heute mit den chronischen Massenstreiks still geworden“[1]. Gerade die vorjährige Maifeier, die zum ersten Male in Rußland, und zwar von einer halben Million, durch Arbeitsruhe gefeiert worden ist, die „chronischen“ Protestmassenstreiks von Hunderttausenden aus Anlaß der Lena-Metzelei[2], aus Anlaß der Verurteilung der Matrosen in Kronstadt[3], aus Anlaß der Verfolgung der legalen sozialdemokratischen Blätter in Petersburg[4], die unzähligen wahrhaft „chronisch“ gewordenen ökonomischen Streiks in den letzten zwei Jahren beweisen, daß die proletarische Masse in Rußland, die während der Schrecken der Konterrevolution 1908 bis 1911 an der Oberfläche gänzlich erstarrt erschien, in Wirklichkeit in ihrem Kampfmut und ihrem Idealismus nicht gebrochen worden ist, daß ihre revolutionäre Aktion eben nicht ein Verzweiflungsausbruch tiefstehender Heloten, sondern eine Äußerung revolutionären Klassenbewußtseins und zäher Kampfenergie gewesen ist.

Gegenüber jener Auffassung, die das russische Proletariat als das tiefststehende und seine Kampfmethoden als Produkt der Rückständigkeit über die Achsel betrachtet, halte ich es also immer noch mit dem früheren Kautsky, der in seiner „Sozialen Revolution“, 2. Auflage, 1907, schrieb:

„Gegen diese ‚Revolutionsromantik‘ gibt es nur noch einen Einwand, der freilich um so häufiger vorgebracht wird, nämlich den, daß die Ver-

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[1] Siehe Karl Kautsky: Nachgedanken zu den nachdenklichen Betrachtungen. In: Die Neue Zeit, 31. Jg. 1912/13, Zweiter Band, S. 560.

[2] Am 29. Januar 1912 war in einer Grube der Lena Goldfields Co. Limited ein Streik ausgebrochen, der, geführt von den Bolschewiki, in den Generalstreik von 6 000 Arbeitern überging. Die Arbeiter forderten u. a. die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen und den Achtstundentag. Als am 4. April 1912 die Arbeiter die Freilassung des verhafteten Streikkomitees forderten, eröffnete Militär das Feuer auf die Arbeiter, tötete 250 von ihnen und verletzte 270. Gegen dieses Blutbad wurden im ganzen Lande Proteststreiks durchgeführt.

[3] Gegen die Verurteilung von 52 Matrosen der Baltischen Flotte, die der Vorbereitung des Aufstandes beschuldigt wurden, fand im Juni 1913 ein 24stündiger Proteststreik der Petersburger Arbeiter statt, der auch auf Moskau, Riga und Reval übergriff. Die zaristische Justiz wagte daher nicht, Todesurteile auszusprechen.

[4] Gegen die Verfolgungen der Arbeiterpresse fanden vom 1. bis 3. Juli 1913 politische Streiks statt, die gleichzeitig in Petersburg, Moskau, Riga und Baku durchgeführt wurden.