Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 308

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hältnisse in Rußland nichts für uns in Westeuropa bewiesen, da sie von diesen grundverschieden seien.

Die Verschiedenheit der Verhältnisse ist mir natürlich nicht unbekannt, wenn man sie auch nicht übertreiben darf. Die jüngste Broschüre unserer Genossin Luxemburg[1] beweist klar, daß die russische Arbeiterklasse nicht so tief steht und so wenig erreicht hat, als man gewöhnlich annimmt. Wie die englischen Arbeiter es sich abgewöhnen müssen, auf das deutsche Proletariat als ein rückständiges Geschlecht herabzusehen, so müssen wir in Deutschland uns das gleiche gegenüber dem russischen abgewöhnen.“ (S. 59.) Und noch weiter (S. 63): „Die englischen Arbeiter stehen als politischer Faktor heute noch tiefer als die Arbeiter des ökonomisch rückständigsten, politisch unfreiesten europäischen Staates: Rußland. Es ist ihr lebendiges revolutionäres Bewußtsein, was diesen ihre große praktische Kraft gibt; es war der Verzicht auf die Revolution, die Beschränkung auf die Interessen des Augenblicks, die sogenannte Realpolitik, was jene zu einer Null in der wirklichen Politik machte.“[2]

Doch dies nebenbei. Was weiß uns Kautsky im Gegensatz zur „russischen Methode“ über die „deutsche Methode“ des Massenstreiks zu sagen? Hier lehnt er vor allem mit Entrüstung jeden Hinweis auf die ausschlaggebende Mitwirkung der Nichtorganisierten ab. Wer bildet denn diese unorganisierte Masse? ruft er. Sie setzt sich zusammen aus kraftlosen, gedrückten, isolierten, verkommenen Elementen, aus unwissenden, gedankenlosen, in Vorurteilen befangenen oder gesinnungslosen Subjekten. Und solche Elemente sollen die energischste Streitmacht für unsere Kämpfe abgeben? Auf diese Frage der Theorie, die mit der Stange im Nebel herumfährt, antwortet die Praxis des politischen wie des gewerkschaftlichen Kampfes mit einfachen Tatsachen. Jeder größere gewerkschaftliche Kampf ist seit jeher auf die Unterstützung der Unorganisierten angewiesen, und nur aus großen Kämpfen, an denen Unorganisierte mitwirkten, ist seit jeher der Hauptzuwachs der Organisation hervorgegangen. Ohne die Mitwirkung unorganisierter Massen wären die wichtigsten Kämpfe der Gewerkschaften und ohne diese Kämpfe ihr Wachstum als Organisation einfach undenkbar. Dafür nur ein Beispiel. Im Frühjahr 1910 ist in Hagen in Westfalen jene erste Kraftprobe des Metallarbeiterverbandes mit den Metallindustriellen ausgefochten worden, deren

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[1] Siehe Rosa Luxemburg: Massenstreik, Partei und Gewerkschaften. In: GW, Bd. 2, S. 91–170.

[2] Karl Kautsky: Die Soziale Revolution. I. Sozialreform and soziale Revolution, Berlin 1907, S. 59 und 63.