Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 86

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delhäusern, den Prostituiertenvierteln oder auch in den Fabriken und Gruben heraus? So nahm der Oberbürgermeister Kirschner in ihrem Namen das Beileid der Kaiserin entgegen, und es gab ihm Kraft, den Schmerz der Szczyptierowskis mit Fassung zu ertragen. Auch im Rathaus bewies man bei der Katastrophe im Asyl mannhafte Kaltblütigkeit. Man rekognoszierte, kontrollierte, protokollierte, beschrieb lange Bogen Papier, behielt aber bei alledem den Kopf oben und blieb bei den Todeswindungen anderer so mutig und standhaft wie antike Helden im Angesicht des eigenen Todes.

Und doch hat der ganze Vorfall einen schrillen Mißton in das öffentliche Leben hineingebracht. Für gewöhnlich sieht unsere Gesellschaft im ganzen ziemlich wohlanständig aus; sie hält auf Ehrbarkeit, auf Ordnung und gute Sitten. Freilich gibt es Mängel und Unvollkommenheiten im Bau und Leben des Staates. Aber hat denn die Sonne nicht auch ihre Flecken? Und gibt es denn überhaupt etwas Vollkommenes hienieden? Die Arbeiter selbst, namentlich die bessergestellten, die organisierten, glauben gern, daß, alles in allem, Dasein und Kampf des Proletariats in den Grenzen der Ehrbarkeit und Wohlanständigkeit abläuft. Ist denn die „Verelendung“ nicht als graue Theorie längst widerlegt? Jedermann weiß, daß es Asyle, daß es Bettler, Prostituierte, Geheimpolizisten, Verbrecher und „lichtscheue Elemente“ gibt. Aber das alles wird gewöhnlich als etwas Fernes und Fremdes empfunden, als etwas, das irgendwo außerhalb der eigentlichen Gesellschaft liegt. Zwischen der rechtschaffenen Arbeiterschaft und jenen Ausgestoßenen steht eine Mauer, und man denkt selten an den Jammer, der jenseits der Mauer im Kot kriecht. Plötzlich passiert etwas, das so wirkt, wie wenn inmitten eines Kreises wohlerzogener, feiner und freundlicher Menschen jemand zufällig unter kostbaren Möbeln Spuren scheußlicher Verbrechen, schamloser Ausschweifungen aufdecken würde. Plötzlich wird unserer Gesellschaft durch ein grauenhaftes Gespenst des Elends die Maske der Wohlanständigkeit abgerissen, ihre Ehrbarkeit als die Schminke einer Dirne erwiesen. Plötzlich zeigt sich, daß unter dem äußeren Rausch und Tand der Zivilisation ein Abgrund der Barbarei, der Vertierung gähnt; Bilder der Hölle steigen auf, wo menschliche Geschöpfe im Kehricht nach Abfällen wühlen, in Todeszuckungen sich winden und verreckend ihren Pesthauch nach oben senden.

Und die Mauer, die uns von diesem düsteren Reich der Schatten trennt, erweist sich plötzlich als eine bloß bemalte papierene Kulisse.

Wer sind die Bewohner des Asyls, die dem faulen Bückling oder dem giftigen Fusel zum Opfer fielen? Ein Handlungsgehilfe, ein Bautechniker,

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