Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 87

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ein Dreher, ein Schlosser – Arbeiter, Arbeiter, lauter Arbeiter. Und wer sind die Namenlosen, die von der Polizei nicht rekognosziert werden konnten? Arbeiter, lauter Arbeiter oder solche, die es noch gestern waren.

Und kein Arbeiter ist vor dem Asyl, vor dem vergifteten Bückling und Fusel gesichert. Heute noch rüstig, ehrbar, fleißig – was wird aus ihm, wenn er morgen entlassen ist, weil er die fatale Grenze der vierzig Jahre erreicht hat, bei der ihn der Unternehmer für „unbrauchbar“ erklärt? Was, wenn er morgen einen Unfall erleidet, der ihn zum Krüppel, zum Rentenbettler macht?

Man sagt: Zum großen Teil verfallen dem Armenhaus und dem Gefängnis nur schwache und schlechte Elemente: schwachsinnige Greise, jugendliche Verbrecher, abnorm veranlagte Menschen mit verminderter Zurechnungsfähigkeit. Mag stimmen. Aber schwache und schlechte Naturen aus höheren Klassen kommen nicht ins Asyl, sondern in Sanatorien oder in den Kolonialdienst, wo sie an den Negern und Negerweibern ihre Instinkte ausleben können. Idiotisch gewordene ehemalige Königinnen und Herzoginnen verleben den Rest ihrer Tage in abgeschlossenen Palästen, umgeben von Luxus und ehrerbietiger Dienerschaft. Für das alte irrsinnige Scheusal, das Tausende von Menschenleben auf dem Gewissen hat und dessen Sinne durch Mord und geschlechtliche Ausschweifung stumpf geworden sind, für den Sultan Abdul Hamid hat die Gesellschaft als letzten Ruhewinkel eine prunkvolle Villa mit Lustgärten, perfekten Köchen und einen Harem aus blühenden Mädchen vom zwölften Jahre aufwärts; für den jugendlichen Verbrecher Prosper Arenberg – ein Zuchthaus mit Champagner, Austern und lustiger Herrengesellschaft; für abnorm veranlagte Fürsten – die Schonung der Gerichte, die Pflege heroischer Gattinnen und den stillen Trost eines guten alten Weinkellers; für die sinneskranke, unzurechnungsfähige Offiziersfrau aus Allenstein, die einen Mord und einen Selbstmord verschuldet hat – ein behagliches bürgerliches Dasein, Seidentoiletten und diskrete Sympathie der Gesellschaft.

Aber die alten, schwachen, unzurechnungsfähigen Proletarier verrecken wie die Hunde in Konstantinopel auf den Straßen, an Zäunen, in Asylen, in Gossen, und neben ihnen findet man als einzige Hinterlassenschaft – den Schwanz eines fauligen Bücklings. Die Klassenspaltung zieht sich schroff und grausam bis in den Irrsinn, bis ins Verbrechen, bis in den Tod hinein. Für das besitzende Gesindel – Schonung und Lebensgenuß bis zum letzten Atemzug, für den proletarischen Lazarus – Skorpione des Hungers und der Giftbazillus des Todes auf dem Kehrichthaufen.

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