Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 427

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mit der Zabernaffäre[1] in Deutschland. Vor fünfzehn Jahren erbebte die französische Republik, durch den monarchistisch-klerikal-nationalistischen Aufruhr der Armee in ihren Grundfesten erschüttert. Vor einem halben Jahr tauchte in Preußen-Deutschland der Schrecken der Militärdiktatur auf. Und nun sind wir Zeugen eines schweren Kampfes des englischen Parlamentarismus mit der Revolte selbstherrlicher Offiziere. Schon die Tatsache, daß so verschieden geartete politische Gebilde wie die Dritte Republik in Frankreich, das altehrwürdige Parlamentsregime Englands und der deutsche Halbabsolutismus aus völlig verschiedenen Anlässen dieselben Krisen einer Militärdiktatur erleben, weist auf die tiefliegenden Wurzeln und den elementaren Charakter dieser Erscheinung hin.

Die Armee soll sich nicht mit Politik befassen; dieser Satz liegt der offiziellen Theorie des heutigen stehenden Heeres in allen Ländern zugrunde, zusammen mit dem anderen theoretischen Satz: Das Heer dient der Verteidigung des Vaterlandes. Beide Sätze drücken nur in verschiedenen Formen denselben Gedanken aus: Das Militär soll das Land vor dem äußeren Feind schützen, sich aber in innere Klassenkämpfe nicht einmischen. Die Praxis der bürgerlichen Gesellschaft widerspricht und widersprach seit jeher dieser Theorie, wie die ganze Ideologie dieser Gesellschaft ihren wirklichen Kern nur zu verschleiern pflegt. Die Armee hat seit jeher an allen wichtigeren Klassenkämpfen unmittelbaren, häufig ausschlaggebenden Anteil genommen. Namentlich hat die kapitalistische Bourgeoisie ihre geschichtliche Laufbahn als herrschende Klasse mit und dank der Militärgewalt begonnen wie besiegelt. Die beiden entgegengesetzten Pole auf der Stufenleiter dieser Laufbahn waren: die englische Revolution des Jahres 1649, in der das Revolutionsheer des Parlaments die Bourgeoisie in den Sattel gehoben hat, und die deutsche Revolution zweihundert Jahre später, als die Bourgeoisie unter die Fittiche des feudalen Militärs flüchtete – vor dem Gespenst der proletarischen Revolution.

Die Forderung der politischen Neutralität der Armee, der Kampf gegen die „politisierenden Offiziere“, den die heutige Bourgeoisie führt, läuft also auf die Forderung hinaus, die Armee soll nunmehr lediglich gehorsames Werkzeug ihrer Klassenherrschaft sein – nach innen wie nach außen. Der Soldat soll blindlings dem Offizier gehorchen, das Offizierkorps – den „Gesetzen“, d. h. der jeweilig am Ruder befindlichen Schicht der Bourgeoisie.

Die Armee ist aber selbst nur ein Teil des Volksganzen und spiegelt naturgemäß dessen Klassengegensätze wider. Das Offizierkorps der heu-

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[1] Im November 1913 war es in Zabern (Unterelsaß) zu schweren Ausschreitungen des preußischen Militärs gegenüber den Einwohnern gekommen, die gegen die Beschimpfung der Elsässer durch einen Leutnant der Garnison protestiert hatten. Der Regimentskommandeur Oberst von Reuter ließ die Demonstrationen der Bevölkerung mit Waffengewalt auseinanderjagen und Verhaftungen vornehmen. Diese Vorgänge lösten in ganz Deutschland, selbst bei Teilen des Bürgertums, einen Entrüstungssturm gegen die Militärkamarilla aus, und der Reichstag mißbilligte nach heftigen Debatten mit 293 gegen 54 Stimmen bei 4 Stimmenthaltungen die Stellung der Regierung, die die Vorgänge zu bagatellisieren versuchte. Oberst von Reuter, gegen den vom 5. bis 8. Januar 1914 vor einem Kriegsgericht in Straßburg verhandelt wurde, wurde von aller Schuld freigesprochen und im Januar 1914 vom deutschen Kaiser demonstrativ mit einem Orden dekoriert.