Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 187

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anschauung des revolutionären proletarischen Klassenkampfes, nicht annimmt und als ein echter Sohn des vorkapitalistischen Rußlands auch nicht annehmen kann, so ergibt sich daraus die besondere Tragik seines Lebens und seines Todes. Sein vom historischen Boden losgelöstes Gesellschaftsideal schwebt in der Luft der individuellen moralischen „Auferstehung“ urchristlicher Färbung oder im besten Falle eines konfusen Agrarkommunismus. In der Lösung seines Problems ist Tolstoi sein Lebtag Utopist und Moralist geblieben. Aber für die Kunst und ihre Wirkungskraft ist nicht die Lösung, nicht das soziale Rezept, sondern das Problem selbst, die Tiefe, die Kühnheit und Aufrichtigkeit in seiner Erfassung entscheidend. Hier hat Tolstoi das Höchste an Gedankenarbeit und an innerem Kampf geleistet, und das hat ihm ermöglicht, das Höchste in der Kunst zu erreichen. Dieselbe unerbittliche Ehrlichkeit und Gründlichkeit, die ihn dazu führte, das gesamte Gesellschaftsleben in all seinen Bedingungen an dem Ideal kritisch zu prüfen, hat ihn auch befähigt, dieses Leben in seinem großen Bau und seinen Zusammenhängen als Ganzes künstlerisch zu erschauen und so zu dem unerreichbaren Epiker zu werden, als welcher er sich in seiner Mannesreife in „Krieg und Frieden“ und als Greis im „Hadshi Murat“ und im „Gefälschten Coupon“ zeigt.

Freilich ist Tolstois Genie von der ursprünglichen, natürlichen Art einer unerschöpflichen Goldader. Wie wenig aber die stärkste künstlerische Begabung ohne den sicheren Kompaß einer großen, ernsten Weltanschauung schöpferisch zu wirken vermag, das zeigte jüngst wieder das Beispiel des Dänen Jensen. Sein feines, farbiges und geistreiches Erfassen der Handlung und seine souveräne Beherrschung der technischen Mittel der Erzählung machen ihn zu einem geborenen Epiker großen Stils. Und doch, was hat er in seiner „Madame d’Ora“, in seinem „Rad“ anderes geliefert als ein gequältes, gigantisches Zerrbild der modernen Gesellschaft, eine grell angestrichene Jahrmarktsbude mit Abnormitäten, die halb wie dreiste Kolportage wirkt und halb wie boshafte Verhöhnung der Leser selbst. Das macht, ihm fehlt eine innere einheitliche Weltanschauung, um die sich die Einzelheiten gruppieren könnten, ihm fehlen der heilige Ernst, die Ehrlichkeit und die Wahrhaftigkeit, mit denen Tolstoi an seine Sachen herantritt.

Alle diese Eigenschaften Tolstois kommen in seinem Nachlaß zur höchsten Entfaltung. Hier macht er nicht die leisesten Kompromisse mehr an die Formschönheit, an das Sensations- oder Beruhigungsbedürfnis der Leser. Hier legt er jedes Beiwerk, alles Literarische beiseite und gelangt

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