Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 188

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-3/seite/188

zu strengster Selbstzucht, höchster Ehrlichkeit und knappsten Ausdrucksmitteln. Hier ist seine Kunst mit der Sache so sehr identisch, daß sie kaum noch überhaupt zu merken ist. Und deshalb ist Tolstoi gerade im Nachlaß, in seinen letzten Lebenswerken zu jener höchsten Kunst aufgestiegen, daß sie ihm zur Selbstverständlichkeit wird, daß ihm alles, was er in die Hand nimmt, gedeiht, sich sofort gestaltet und lebt. Er wählt hier – im „Vater Sergius“ zum Beispiel, dem Lebensgang eines büßenden Weltmannes, im „Gefälschten Coupon“, der Wanderungsgeschichte einer falschen Banknote durch verschiedene Schichten des russischen Volkes – Themen und Ideen, die als reine Tendenzprosa jede schwächere Kunst und jede nicht so vollkommene Ehrlichkeit unrettbar ertöten würden. Bei Tolstoi entsteht mit den einfachsten Mitteln einer ungekünstelten Erzählung ein grandioses Gemälde menschlicher Schicksale von höchster künstlerischer Wirkung.

Dieselbe tiefe, man möchte sagen, beispiellose Ehrlichkeit verwandelt die beiden Dramen des Nachlasses, trotzdem ihnen so ziemlich alles abgeht, was als „dramatische Handlung“ und „Lösung“ zu den landläufigen Erfordernissen eines bühnenfähigen Stückes gehört, in Erlebnisse von tiefer, erschütternder Wirkung. Es ist besonders interessant und lehrreich, in einer Theatervorstellung die geistige Kluft zu beobachten, die zwischen diesen beiden genialen Schöpfungen eines großen Dichters und dem bürgerlichen Publikum gähnt. „Das Licht, das im Dunkel leuchtet“ ist nichts anderes als das eigene Lebensdrama Tolstois. In diesem Kampfe eines einsamen Titanen gegen die täglichen Umklammerungen des Kompromisses, denen er sich zu entreißen sucht und in denen er verblutet, sieht das Bourgeoispublikum natürlich nur ein rührendes „Ehedrama“, einen Konflikt zwischen „Mutterpflichten“, „Gattenpflichten“ und was dergleichen holde Drangsale des deutschen Philisterschlafzimmers mehr sind. Die erschütterndsten Szenen wie die vor dem Militärkommando, wo ein Jüngling seinen Abscheu vor dem Militarismus in einer entschiedenen Dienstverweigerung zum Ausdruck bringt und dafür einer endlosen geistigen Folter ausgesetzt wird, wie der vergebliche letzte Fluchtversuch des Kämpfers für soziale Gleichheit aus seiner Familie und die tragische Auseinandersetzung zwischen ihm und seiner Frau – alle diese tiefernsten, ehrlichen Worte wirken in dem Milieu des deutschen Bourgeoispublikums, das durch die landläufige Verlogenheit des heutigen Theaters korrumpiert ist, wie etwas durchaus Unpassendes, Befremdendes, Peinliches, beinahe wie eine Unanständigkeit. Ebensowenig geistiges Band knüpft sich zwischen dem Zuschauerraum und dem anderen Drama Tolstois, dem

Nächste Seite »