Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 189

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„Lebenden Leichnam“. Das geputzte Publikum des deutschen Theaters, das sich wohl hauptsächlich wegen der Sensation eines Zigeunerchors und der gruseligen Pikanterien der „Eheirrung“ zu den Vorstellungen drängt, ahnt offenbar gar nicht, daß es auf es unausgesetzt Ohrfeigen von der Bühne regnet, wo die wohlanständige, honette Gesellschaft in ihrer ganzen inneren Erbärmlichkeit, Beschränktheit und kalten Selbstsucht geschildert wird, während die einzigen Wesen mit fühlender menschlicher Brust und mit großmütigen Regungen unter den sogenannten „Lumpen“, unter Verstoßenen und Verkommenen zu finden sind. Das korrumpierte, durch den Panzer der Trivialität seines Daseins unempfindlich gemachte Bourgeoispublikum, das ins Theater geht, nur um sich zu zerstreuen, merkt gar nicht, daß von ihm selbst „die Fabel erzählt“, wenn der verlumpte Held des Dramas in seiner letzten Zufluchtsstätte; einer schmutzigen Schenke, seine Lebensgeschichte mit den schlichten Sätzen erklärt: „Wer in den Kreisen, denen ich entstamme, geboren ist, der hat nur drei Möglichkeiten zur Auswahl. Entweder kann er ein Amt bekleiden, kann Geld verdienen und den Schmutz, in dem wir leben, vermehren – das war mir zuwider, oder vielleicht verstand ich es auch nicht, vor allem aber war es mir zuwider. Oder er kann diesen Schmutz bekämpfen, doch dazu muß er ein Held sein, und der bin ich nie gewesen. Oder endlich drittens: Er sucht zu vergessen, wird liederlich, trinkt und singt – das habe ich getan, und so weit hab’ ich’s damit gebracht.“[1] Die „ein Amt bekleiden, Geld verdienen und den Schmutz vermehren“ klatschen begeistert Beifall dem mimenden Schauspieler, aber das geistige Reich des Dichters blieb ihnen ein böhmisches Dorf, wie ihnen das Geistesleben der modernen Arbeiterbewegung, des Massenhelden, der „den Schmutz bekämpft“, auf ewig ein Buch mit sieben Siegeln bleibt.

Deshalb gehört der Nachlaß Tolstois, sowohl die Erzählungen wie die Dramen, noch mehr als seine früheren Werke vor das Arbeiterpublikum. Tolstoi hatte freilich kein Verständnis für die moderne Arbeiterbewegung, aber es wäre ein schlimmes Zeichen für die geistige Reife der aufgeklärten Arbeiterschaft, wenn sie ihrerseits kein Verständnis dafür hätte, daß die geniale Kunst Tolstois trotzdem den reinsten und echtesten Geist des Sozialismus atmet. Als Todfeind der bestehenden Gesellschaft, als unerschrockener Kämpfer für Gleichheit, Solidarität unter den Menschen und für Rechte der Besitzlosen, als unbestechlicher Entlarver aller Heuchelei und Verlogenheit der heutigen Zustände in Staat, Kirche, Ehe ist Tolstoi trotz aller utopistisch-moralisierenden Form in seinem Wesen durch

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[1] Leo Nikolajewitsch Tolstoi: Der lebende Leichnam, Leipzig (1948), S. 59 f.