Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 59

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Und das nicht allein. Kurz vorher hörten wir von einem anderen Krieg, vom Krieg der Massen gegen die drückende Not. In den verschiedensten Staaten sind Hunderttausende aufgestanden, um Protest zu erheben. In Wien fiel der erste Schuß gegen die Volksmassen. Der Schrei nach Brot wurde mit blauen Bohnen beantwortet.[1] (Pfuirufe.) Ein unumstößliches Gesetz bringt uns alle paar Jahre nach einer Zeit der Prosperität wirtschaftliche Krisen, deren Kosten in erster Linie von der Arbeiterklasse getragen werden müssen. Kaum sind wir ins 20. Jahrhundert eingetreten, und schon liegen zwei Krisen hinter uns, diejenigen der Jahre 1900 und 1907, unter denen die deutschen Arbeiter ganz besonders zu leiden hatten. Und jetzt schon wieder, in der Zeit der Prosperität, nachdem sich die Arbeiter kaum erholt haben, stehen Hunderttausende auf den Straßen, die vor Hunger schreien. Das ist ein Zeichen kapitalistischer Hilfe, das jedem zeigen muß, wohin der Weg geht. Hunger und Krieg haben wir heute vor uns, zwei Blüten vom Baume der kapitalistischen Ausbeutung. Auch in der Vergangenheit gab es Hungersnöte der Massen, so namentlich im sogenannten finsteren Mittelalter. Die Ursachen dieser Hungersnöte waren jedem klar und verständlich. Entweder trug eine Mißernte die Schuld oder war die Pest im Lande, bestand Mangel an Arbeitskräften oder verhinderte ein Krieg die Zufuhren. Heute haben wir den Massenhunger, ohne daß Mißernten dafür verantwortlich gemacht werden könnten. Im Gegenteil, eine Reihe guter Erntejahre liegt hinter uns. Wir haben keinen Krieg, auch nicht die Pest und stehen doch vor dieser beispiellosen Hungersnot. Wir haben heute unter etwas zu leiden, das schlimmer ist als all die Plagen der früheren Zeiten, unter der Herrschaft der Junkerpartei. Heute handelt es sich um eine künstliche, planmäßige, mit gesetzlichen Mitteln fabrizierte Hungersnot. (Lebhafte Zustimmung.) Die Zollpolitik, die indirekten Steuern sind es, die so schwer auf uns lasten. Deutschland marschiert in dieser Richtung allen anderen Staaten gegenüber an der Spitze.

Einen Wendepunkt der Steuerpolitik brachte unter Bismarck das Jahr 1878. Nach kurzem Freihandel trat der Umschwung zu indirekten Steuern und Zöllen ein. Der Tarif vom Jahre 1878 bildete den ersten Schritt auf der abschüssigen Bahn. Dasselbe Jahr 1878 brachte noch ein anderes Geschenk Bismarcks: das Sozialistengesetz. Das war kein Zufall. Mit der einen Hand nahm man dem Volke den letzten Bissen vom Munde, auf

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[1] In Wien war es am 17. September 1911 bei einer Demonstration gegen die Teuerung, an der sich etwa 120 000 Personen beteiligten, zu einem Zusammenstoß mit der Polizei und dem eingesetzten Militär gekommen. Dabei wurde eine Person getötet, 83 wurden verletzt.