Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 60

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der anderen Seite fuhr man der Sozialdemokratie an die Gurgel, um den Protestschrei zu ersticken. Aus diesem Vorgang muß uns klarwerden, daß der politische und der gewerkschaftliche Kampf zusammen geführt werden müssen.

Das Jahr 1902 brachte uns den Hungerzolltarif.[1] Die Sozialdemokratie tat alles, um sich dem frevelhaften Raubzug entgegenzustemmen. Sie griff dabei selbst zu dem in Deutschland ungewohnten Mittel der Obstruktion. Monatelang dauerte der Widerstand, endlich aber wurde der Tarif doch Gesetz. In der Adventsnacht des Jahres 1902, als der Morgen graute und die Glocken zum Frieden läuteten, war die Freveltat vollbracht und der Raub in Sicherheit gebracht. Der damalige Kanzler Bülow eilte zum Kaiser, um diesem bei aufgehender Sonne den Sieg über das darbende Volk zu melden. Zum Dank erhielt er die goldene Verdienstkette um den Hals gehängt, für die Arbeiter aber war die Hungerkette bereit. (Lebhafte Zustimmung.) Die Wirkung des neuen Tarifs begann im Jahre 1906, und jetzt können wir seine Nachwirkungen erst recht verspüren.

Das Jahr 1909 brachte uns eine sogenannte Finanzreform.[2] Wer bei dieser Reform dachte, daß nun die Finanzen des Reichs in Ordnung gebracht, die Schulden bezahlt würden, der täuschte sich. Nichts davon geschah. Wohl aber wurden dem Volke 500 Millionen an neuen Steuern aufgeladen. Im Jahre 1873 hatte das Volk die Summe von rund 400 Millionen Mark für Zölle und indirekte Steuern aufzubringen; bis zum Jahre 1910 ist diese Summe auf jährlich 1980 Millionen gestiegen. Mit diesen rund 2 Milliarden ist die Last noch nicht erschöpft. Es kommen dazu die Summen, die Industrieritter und Agrarier noch extra in ihre Taschen schieben dadurch, daß der Preis um den Betrag der Zölle erhöht wird. Die hier in Betracht kommende Summe wird jährlich auf ebenfalls nicht weniger als 1900 Millionen berechnet. Rund 4 Milliarden sind es also, die uns Zölle und indirekte Steuern jetzt im Jahre direkt und indirekt kosten. Diese Zahl auszusprechen ist leichter, als sie sich vorzustellen.

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[1] Am 14. Dezember 1902 waren im Reichstag ein neues Zollgesetz und neue Zolltarife beschlossen worden, durch die die Agrar- und einige Industriezölle wesentlich erhöht wurden. Die Sozialdemokraten, die mit allen parlamentarischen Mitteln und unterstützt durch eine breite Protestbewegung in ganz Deutschland gegen den Zollwucher gekämpft hatten, wurden durch wiederholten Bruch der Geschäftsordnung des Reichstags bei ihrem Auftreten im Plenum behindert. Die neuen Zolltarife traten am 1. März 1906 in Kraft und brachten der Mehrheit der Bevölkerung eine erhebliche Verschlechterung ihrer Lebenslage.

[2] Am 10. Juli 1909 war im Reichstag eine Reichsfinanzreform gegen die Stimmen der Sozialdemokraten, der Nationalliberalen und der Freisinnigen Volkspartei beschlossen worden. Da vier Fünftel der neuen Steuern indirekte Steuern waren, wurden vor allem den Volksmassen zusätzliche Lasten aufgebürdet.