Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 447

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anderen Geburtsdaten just in die Mitte gestellt. Genau drei Jahre vor der Eisenacher Offenbarung der mit sozialem Öl gesalbten Kathedergelehrten wurde in einer gleichfalls in Eisenach abgehaltenen ungebärdigen Versammlung deutscher Proletarier die Fahne des sozialen Klassenkampfes kühn und trotzig erhoben: Es war dies die von Bebel gegründete Sozialdemokratische Arbeiterpartei. Und genau drei Jahre nach der Entstehung des Vereins für Sozialreform schloß sich die Kerntruppe des deutschen Ausbeutertums, die schwere Industrie des Rheinlands, zu dem Bueckschen Verband deutscher Industrieller zusammen, der offen die Schutzzollpolitik und die Scharfmacherei als Programm auf den Schild erhob. Dieser dreigliedrige Plan: rechts die brutale Trutzburg des rücksichtslosen koalierten Kapitals, links der frische, erst halbwegs aufgeworfene Wall des revolutionären Proletariats und dazwischen das Fähnlein der sieben aufrechten Friedensapostel auf dem Katheder mit dem sanften Palmwedel der Sozialreform in der Hand – das war das genaue Sinnbild der Kräfteverhältnisse wie der weiteren Schicksale des jungen Deutschen Reichs von Bismarcks Gnaden.

Mit Sturm und Braus schlugen alsbald die wilden Wogen des Klassenkampfes über den professoralen Grenzmarken des „sozialen Gottesfriedens“ zusammen. Die Ära Tessendorf[1], das Sozialistengesetz, die schroffe Umkehr zum Hochschutzzoll, Bismarcksche Militärvorlagen und immer krampfhaftere Windungen der indirekten Steuerschraube, die Peitsche der politischen Entrechtung und der Schmachtriemen der wirtschaftlichen Auspowerung für die Massen – das war das Ergebnis der nächsten fünfzehn Jahre nach der Entstehung des Vereins für Sozialreform. Der deutsche Professor ist ein Mann von heroischer Standhaftigkeit. Er überdauert alles. Er tauchte während der Zeit der härtesten Kämpfe unter und kauerte geduldig im klirrenden Waffenlärm unter seinem bescheidenen, von der Welt vergessenen Sträuchlein der „Sozialreform“. Das Sozialistengesetz und alle Streiche der Reaktion gegen die Arbeiterklasse ertrug er mit philosophischer Sanftmut ohne Protest, ja zum Teil erteilte er ihnen seinen Segen.

Als aber nach dem Sturm des Sozialistengesetzes die Arbeiterklasse siegreich dastand, pulvergeschwärzt, aus mancher Wunde blutend, aber kräftig und zum weiteren Kampfe bereit, als die Monarchie sich anschickte, den rauhen Gesellen, an dem die Peitsche zerschlagen war, mit

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[1] Hermann Tessendorf war von 1873 bis 1879 Erster Staatsanwalt am Berliner Stadtgericht und wurde als Organisator der Sozialistenverfolgungen berüchtigt. Seit 1886 war er Oberreichsanwalt in Leipzig.