Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 448

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dem Zuckerbrot der Sozialreform zu ködern, da tauchte auch wieder der sozialreformerische Professor strahlend an die Oberfläche. Mit dem sozialpolitischen Evangelium des Kaisers hielt er seine Zeit für gekommen. Doch kurz währte auch dieser Traum. Die neunziger Jahre leiteten nur nach einer knappen Pause von wenigen Jahren zu noch schrofferen und gewaltigeren Klassenkämpfen hinüber, an deren Anfang die Zuchthausvorlage[1] stand und an deren Ende die heutige Hetzjagd gegen das Koalitionsrecht der Arbeiter steht. Zwischen den zwei feindlichen Großmächten der Gegenwart: dem koalierten Kapital und der geschlossenen Front der Sozialdemokratie, zwischen Hammer und Amboß, konnte der Verein für Sozialreform heute nur als ein moderiges Gespenst wieder auftauchen, um sich die eigene Grabstätte zu besehen.

Die tragikomische Gestalt des Don Quichotte, des ehrlichen Kämpfers um historisch verwirkte Ideale, verdient stets Sympathie und Achtung, trotz aller Lächerlichkeit seiner Waffen und Feldzüge. Die deutschen Professoren der Sozialreform jedoch haben auf beides – Sympathie wie Achtung – ihr Anrecht verwirkt. Und das schon vor fünfzehn Jahren. Es war im Winter von 1899 auf 1900, als Deutschland sich anschickte, durch das denkwürdige große Flottengesetz, durch die Verdoppelung der Schlachtflotte den entscheidenden Sprung zur imperialistischen Abenteurerpolitik zu vollführen.[2] Die Kaiserreden von dem Dreizack, der in unsere Faust gehöre, und der Zukunft, die auf dem Wasser liege, waren das Signal zu einer flottenpatriotischen Orgie im ganzen Lande. Und in jener Schicksalsstunde, in der die Würfel über die weitere soziale und politische Entwicklung Deutschlands fallen sollten, stiegen plötzlich auf Kommando des Kaisers alle sozialreformerischen Professoren von ihrem Katheder herab. Sie begaben sich in ihrer ganzen Gelehrtenwürde – eine in Deutschland unerhörte Sache – in öffentliche Volksversammlungen. Der greise Schmoller trug sein silbernes Haar und der junge Sombart seine duftenden Locken in qualmige Berliner Versammlungslokale, um für die große Flottenvorlage Agitation zu treiben! Die Apostel des „sozialen Gottesfriedens“ vertauschten den sanften Palmwedel der Sozialreform mit dem blanken Schwert des Militarismus und stellten sich als freiwillige Eintreiber in den Dienst des Molochs, der das Mark aus den Knochen des Volkes saugt, der jede Sozialreform mit seinem eisernen Tritt zerstampft. Professor Schmoller aber schrieb schwarz auf weiß in seinem Jahrbuch, für Deutschland erwachse als erste Pflicht, für „die Ziele aller höheren geisti-

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[1] Am 20. Juni 1899 hatte die Regierung im Reichstag einen Gesetzentwurf „zum Schutz der gewerblichen Arbeitsverhältnisse“, die sogenannte Zuchthausvorlage, eingebracht, die sich gegen die zunehmende Streikbewegung richtete und die Beseitigung des Koalitions- und des Streikrechts der Arbeiter bezweckte. Auf Grund gewaltiger Massenaktionen konnte diese Vorlage am 20. November 1899 im Reichstag gegen die Stimmen der Konservativen zu Fall gebracht werden.

[2] Am 28. Oktober 1899 war in der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung“ der Plan veröffentlicht worden, die deutsche Kriegsflotte durch erhöhtes Tempo des Kriegsschiffsbaus über das im Flottengesetz vom März 1898 vorgesehene Maß hinaus zu vergrößern. Das zweite Flottengesetz, das die Verdoppelung der Schlachtflotte vorsah, wurde am 12. Juni 1900 vom Reichstag beschlossen und diente der Verwirklichung der Expansionspolitik des deutschen Imperialismus.