Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 477

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matum, das den Krieg entfesselt hat[1], auch nur erst die Mitwirkung und Zustimmung der deutschen Regierung geschweige der Volksvertretung einzuholen. Sie wandeln sich aber, nach der eigenmächtigen Kriegsprovokation Österreichs, in eine „Pflicht“ für Deutschland, sich gleichfalls in das Blutmeer kopfüber zu stürzen, sobald das verbrecherische Treiben Österreichs den russischen Bären auf den Kampfplatz wird herausgelockt haben. Und ebenso soll Frankreichs Volk an die Schlachtbank geschleppt werden, sobald und weil der russische Zarismus, gepeitscht durch die Erinnyen der Revolution im Innern und die Furien des Imperialismus in seiner auswärtigen Politik, zwischen den Speeren die Rettung oder den Untergang suchen wird.

Fragt man freilich, ob die deutsche Regierung kriegsbereit sei, so kann die Frage mit gutem Recht verneint werden. Man kann den kopflosen Leitern der deutschen Politik ruhig zugestehen, daß ihnen in diesem Augenblick jede andere Perspektive in lieblicherem Lichte erscheint als die, um des habsburgischen Bartes willen alle Schrecken und Wagnisse des Krieges mit Rußland und Frankreich oder gar am letzten Ende mit England auf sich zu nehmen. Diese Kriegsunlust ist aber, weit entfernt, ein versöhnendes und achtunggebietendes Moment in den Augen der Volksmassen zu sein, vielmehr ein Grund mehr, das Treiben dieser unverantwortlichen Lenker der deutschen Geschicke vor das strengste Gericht der Volksmassen zu ziehen. Denn was hat mehr zu der heutigen Kriegslage beigetragen als das wahnwitzige Rüsten, als die ungeheuerlichen Militärvorlagen, die in Deutschland in den letzten Jahren förmlich einander jagten? Was hat mehr die imperialistischen Appetite im Süden Europas entfesselt, den Zündstoff angehäuft, die Gegensätze verschärft als die frivole Einmischung Deutschlands in den Marokkokonflikt[2], die erst den italienischen Raubzug ermutigt, im weiteren Gefolge die Balkankriege entfesselt[3] und so am letzten Ende den heutigen Krieg mit vorbereitet hat? Wenn diejenigen, die seit Jahren mit dem Blut und Gut von Millionen unter kriegerischem Säbelgerassel freventlich gespielt und das Feuer geschürt haben, jetzt vor den Folgen ihres eigenen Tuns ein Grauen überkommt, so haben die Millionen der Proletarier, die auf der Wacht des

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[1] Am 23. Juli 1914 hatte Österreich-Ungarn im Zusammenhang mit der Ermordung des Erzherzogs Franz Ferdinand durch serbische Nationalisten in einer ultimativen Note von der serbischen Regierung Zugeständnisse gefordert, die eine völkerrechtswidrige Einmischung in deren innere Angelegenheiten bedeuteten. Die Ablehnung dieses Ultimatums nahm Österreich-Ungarn zum Anlaß für die Auslösung des Krieges.

[2] Im Frühjahr 1911 hatte Frankreich den Versuch unternommen, seine Herrschaft auf ganz Marokko auszudehnen und endgültig zu festigen. Dieses Vorgehen nahm die deutsche Regierung zum Anlaß für die Erklärung, Deutschland fühle sich nicht mehr an das Algecirasabkommen gebunden. (Mit dem Algecirasvertrag vom 7. April 1906 war die erste Marokkokrise von 1905 beendet werden. Der Vertrag garantierte Marokko formal die Unabhängigkeit, festigte aber den Einfluß Frankreichs in Marokko, indem er die Polizei des Landes auf fünf Jahre französischer und spanischer Kontrolle unterstellte. Deutschland hatte sich durch seine Abenteuerpolitik außenpolitisch fast völlig isoliert.) Am 1. Juli 1911 entsandte die deutsche Regierung die Kriegsschiffe „Panther“ und „Berlin“ nach Agadir und beschwor durch diese Provokation eine unmittelbare Kriegsgefahr herauf. Das Eingreifen Englands zugunsten Frankreichs zwang die deutschen Kolonialpolitiker zum Nachgeben. Zwischen Frankreich und Deutschland wurde ein Kompromiß geschlossen.

[3] Gemeint sind der erste Balkankrieg vom 8. Oktober 1912 bis 30. Mai 1913 und der zweite Balkankrieg vom 29. Juni bis 10. August 1913, durch die die internationalen Spannungen verschärft wurden.