Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 253

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-3/seite/253

tausende und Millionen umfassen, um so mehr wächst notgedrungen der Zentralismus. Damit geht aber auch das geringe Maß an geistigem und politischem Inhalt, an Initiative und Entschluß, das im alltäglichen Leben der Partei von den Organisationen aufgebracht wird, gänzlich auf die kleinen Kollegien an der Spitze: auf Vereinsvorstände, Bezirksvorstände und Parlamentarier, über. Was für die große Masse der Mitglieder übrigbleibt, sind die Pflichten zum Beitragzahlen, zum Flugblätteraustragen, zum Wählen und zu Wahlschlepperdiensten, zur Hausagitation für das Zeitungsabonnement und dergleichen. Das Musterbeispiel in dieser Hinsicht ist die Berliner Organisation, in der so ziemlich alles Wichtige an Leitung und Entschluß von dem Zentralvorstand erledigt wird, und wo die Initiative von unten sich gewöhnlich an dem Gitterwerk der zahllosen Instanzen wie an einem Stacheldrahtzaun ohnmächtig bricht.

Es ist aber eine wunderliche Idee, dauernd Millionen von Menschen nur mit Erfüllung laufender Pflichten, mit Erörterungen über eine Erhöhung der Beiträge, über die Anstellung neuer Zeitungsausträgerinnen, mit Wahlen des ersten und zweiten Vorsitzenden und des Kassierers oder zur Abwechslung mit allerlei örtlichen kleinen Reibereien unter den Funktionären zu beschäftigen, wie sie nun einmal nicht zu vermeiden sind, wo viele Menschen zusammenarbeiten. Es ist eine wunderliche Vorstellung, man brauche diesen bürokratischen Kleinkram nur mechanisch ins riesenhafte zu steigern, um mit der Zeit zwei Millionen, drei Millionen, vier Millionen Mitglieder und so weiter in die Parteiorganisationen hineinzukriegen und sie dort halten zu können.

Für die großen Massen muß viel mehr die Quantität in eine ganz andre Qualität umschlagen. Die großen Massen müssen sich in einer ihnen eignen Weise betätigen, ihre Massenenergie, ihre Tatkraft entfalten können, sie müssen sich selbst als Masse rühren, handeln, Leidenschaft, Mut und Entschlossenheit entwickeln. Da aber unser alltäglicher Organisationsapparat unmöglich ein solches Leben bieten kann – gehören doch auch geschichtliche Situationen dazu, die sich nicht künstlich schaffen lassen –, da in unsrer Organisation umgekehrt selbst das mögliche Minimum an geistigem Leben der Masse durch den Zentralismus erstickt wird, so muß man sich ein für allemal von dem Wahn frei machen, als ob uns je gelingen würde, die ganze gewaltige Masse des arbeitenden Volkes in beitragzahlende Mitglieder der Wahlvereine zu verwandeln.

Dies ist als Vorbedingung für große Massenaktionen weder möglich noch auch notwendig. Was notwendig, ist nur eine kühne Initiative und Aktion der Partei, mit der sie sich an die Spitze der Massen stellt, jedes-

Nächste Seite »