Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 249

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der Partei, eine Taktik, die in der Kampfperiode auf allen Gebieten die äußerste Tatkraft entwickelt, auf alle Provokationen der Gegner scharf antwortet, in jedem Moment die Energie und den Kampfmut des Proletariats aufs höchste steigert. Mit einer kräftigen offensiven Politik ist auch schon dafür gesorgt, sowohl daß die Massen handeln, als daß ihr Auftreten Früchte trägt. Eine konsequente, entschlossene, vorwärtsstrebende Taktik der Sozialdemokratie ruft in der Masse das Gefühl der Sicherheit, des Selbstvertrauens und der Kampflust hervor; eine schwankende, schwächliche, auf der Unterschätzung des Proletariats basierte Taktik wirkt auf die Masse lähmend und verwirrend. Im ersteren Falle brechen Massenstreiks „von selbst“ und immer „rechtzeitig“ aus, im zweiten bleiben mitunter direkte Aufforderungen der Leitung zum Massenstreik erfolglos.

Hätten wir bis jetzt eine kräftige offensive Taktik befolgt, hätte man beispielsweise zum Zarenbesuch in Berlin[1] einen eintägigen Protestmassenstreik veranstaltet, wie solche Dutzende von Malen in andern Ländern vorgekommen sind, hätte man zum Kaiserjubiläum[2], statt sich – wie das Zentralorgan – beinahe zu entschuldigen, daß sich das Proletariat an der Farce nicht beteiligt, im ganzen Reich republikanische Massendemonstrationen gemacht, so würde das, obwohl nicht direkt mit der preußischen Wahlrechtssache verbunden, die Position unsrer Partei und die Chancen unseres Kampfes sowohl um das preußische Wahlrecht wie auch im Kampfe gegen die Militärvorlage bedeutend gestärkt haben. Läßt man sich aber alle Infamien ruhig gefallen, so demoralisiert man die Massen und festigt die Gegner in ihrem Übermut. Wird unter solchen Umständen plötzlich ein Appell an die Massen ergehen, einen Massenstreik zu „machen“, dann kommt entweder nichts oder ein zaghafter Anlauf zustande, der die Partei blamiert und die Massen noch mehr entmutigt.

Die Massenstreiks lassen sich also nicht beliebig inszenieren als taktischer Kunstgriff, der zu jeder Art Politik paßt. Sie können nur machtvoll und wirksam auftreten als Steigerung einer bereits im Gange befindlichen Aktion, als Ausdruck einer hohen Spannung der revolutionären Energie der Massen. Will man eine solche in günstiger Situation auslösen, dann muß die Partei vor allem selbst in ihrer Haltung auf der ganzen Linie in die politische Offensive treten. Alsdann fort mit allen parlamentarischen Selbsttäuschungen, mit aller partikularistischen Winkelpolitik, mit allen

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[1] Im Mai 1913 war Wilhelm II. anläßlich einer Hochzeitsfeier mit dem Zaren Nikolaus II. und dem englischen König Georg V. in Berlin zusammengetroffen.

[2] Im Juni 1913 wurde das 25jährige Regierungsjubiläum Wilhelms II. mit großen Feiern monarchistisch-militaristischen Charakters begangen.