Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 64

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Was haben wir in Deutschland in den letzten Wochen erlebt, wo es um ein Haar mit Frankreich zum Krieg gekommen wäre wegen Marokko[1], also um ein Land, dessen Bewohner uns nichts getan haben. Im Interesse einiger Kapitalisten wurde diese Kriegsgefahr heraufbeschworen. Und jetzt ist alles wieder friedlich gesinnt. Was bedeutet dieser Ausgang? Es handelt sich um einen Länderschacher, den Kiderlen-Wächter und Cambon hinter verschlossenen Türen abmachen. Das Ende dieses Hokuspokus wird die Auslieferung Marokkos an Frankreich sein, Deutschland wird ein Stück Land am Kongo erhalten.[2] Jeder neue Kolonialraub bedeutet aber eine neue Militärvorlage. Wir haben allen Grund, den Marokkokonflikt als einen Ausfluß des Imperialismus anzusehen, genau wie den Krieg in Tripolis. Es sei hier an die schönen Worte August Bebels in Jena[3] erinnert. Erstens: Die Frage der Rüstungen wird uns von nun an nicht mehr entzweien. Es dürfte keinen Optimisten mehr unter uns geben, der glaubt, daß die Staaten anfangen abzurüsten. Zweitens: Die Teuerung in den meisten Ländern ist keine vorübergehende Erscheinung, sie wird zur ständigen Einrichtung werden. – Die Entwicklung der kapitalistischen Staaten kann krasser nicht gedacht werden: Hunger und Kriegsfeuer in Permanenz.

Daneben geht die demokratische Entwicklung zurück, ein immer größerer Verfall des Parlamentarismus ist die weitere Folge. Die Vorstöße des deutschen Imperialismus fallen in die Ferienzeit des Reichstags; beim Beginn des Chinafeldzugs[4], bei den Algecirasverhandlungen[5] und beim „Panthersprung“ nach Agadir war der Reichstag vertagt; es fiel der Regierung gar nicht ein, vor diesen Aktionen das Parlament zu befragen. Im Zusammenhang damit steht die Stärkung des persönlichen Regiments. Es gibt zur Zeit freilich auch „patriotische“ Kreise, die mit dem Instrument des Himmels nicht zufrieden sind. So hat z. B. die freikonservative „Post“ den Kaiser einen poltron valeureux, auf deutsch: tapferen Hasenfuß, genannt. Wilhelm II. ist aber alles eher als ein Friedensfaktor.

Das Anwachsen des Imperialismus läßt keine Milderung der Klassengegensätze erhoffen. Das bedingt, daß auch unsere Kampftaktik eine entsprechende Verschiebung und eine nachhaltigere Wirkung erfahren muß.

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[1] Siehe S. 5, Fußnote 1.

[2] Siehe S. 10, Fußnote 1.

[3] In seiner Begrüßungsansprache an den Parteitag der deutschen Sozialdemokratie, der vom 10. bis 16. September 1911 in Jena durchgeführt wurde, hatte August Bebel die Politik des deutschen Imperialismus angeprangert und auf die sich daraus ergebende Verschärfung der Klassengegensätze aufmerksam gemacht.

[4] Siehe S. 23, Fußnote 1.

[5] Siehe S. 7, Fußnote 3.