Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 63

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-3/seite/63

Wir Sozialdemokraten wissen sehr wohl, daß der Weltfriede eine Utopie bleibt, solange die kapitalistische Wirtschaftsordnung nicht abgeschafft ist. Jedes Volk muß imstande sein, sein eigenes Land gegen Angriffe zu verteidigen. Dazu ist aber kein so riesiger Apparat erforderlich, wie ihn unser gegenwärtiges Heerwesen darstellt, dazu genügen ein paar Wochen Militärdienst. Viele Autoritäten auf militärischem Gebiet sind mit uns der Meinung, daß die zwei- und dreijährige Militärzeit nicht notwendig ist. Dem Volke sollen die Waffen in die Hand gegeben werden, damit es selbst entscheiden kann, wenn ein Krieg notwendig ist. Erst dann kann es tatsächlich heißen: Lieb Vaterland, magst ruhig sein. (Lebhafte Zustimmung.) Das Milizsystem ist nicht bloß eine Phantasie der Sozialdemokratie. Es besteht bereits – wenn auch nicht ganz in unserem Sinne – in der Schweiz. Wessen Grenzen sind nun besser geschützt, jene der kleinen Schweizer Republik mit ihrer Miliz oder diejenigen des militaristischen Deutschlands? Wenn es den herrschenden Klassen ehrlich darum zu tun wäre, nur unser Land zu verteidigen, dann brauchten wir nicht das heutige stehende Heer und die lange Dienstzeit mit ihren Soldatenmißhandlungen. Aber der Gedanke, dem arbeitenden deutschen Volk das Gewehr in die Hand zu liefern, das ist der grausigste Gedanke, den sich die Herrschenden denken können! Die Flinten könnten ja dort losgehen, wo man es nicht wünscht. In dem „gemütlichen“ Wien hat es sich dieser Tage wieder gezeigt, wozu das Militär da ist: um gegen das eigene Volk vorgeschickt zu werden. Auch bei den preußischen Wahlrechtsdemonstrationen war Militär in Bereitschaft, um die Polizei zu unterstützen.[1]

Jetzt haben wir den ersten Krieg aus rein imperialistischen Interessen bekommen. In der Türkei und in Italien gibt es große arbeitende Massen, die von einer Handvoll Kapitalisten ausgebeutet werden. Diese Massen haben kein Interesse an diesem Krieg. Der Generalstreik in Italien war ein Protest gegen den Krieg.[2] Der jetzige Krieg ist nur der Anfang von weiteren, die einen Weltkrieg heraufbeschwören müssen. Die Balkanländer Griechenland, Bulgarien, Serbien, Rumänien werden ebenfalls diesen Krieg benutzen wollen, um auf ihre Rechnung zu kommen.

Nächste Seite »



[1] Im Frühjahr 1910 war in Berlin, Frankfurt (Main) und anderen Städten Militär in Bereitschaft gehalten worden, um gegen die Wahlrechtskämpfer eingesetzt werden zu können. In anderen Städten, so z. B. in Halle (Saale) und Neumünster, ging Militär gemeinsam mit der Polizei gegen die Demonstranten vor.

[2] Am 29. September 1911, dem ersten Tag des italienisch-türkischen Krieges, war von der Leitung der Sozialistischen Partei ein auf 24 Stunden befristeter Generalstreik für Italien ausgerufen worden, dem in vielen Städten des Landes Demonstrationen und Kundgebungen gegen den Krieg vorausgegangen waren.