Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 454

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liner Parteileitung hat die Losung zu Massenprotestversammlungen gegen die Erklärungen des preußischen Ministers ausgegeben, und es ist schon richtig, daß in der jetzigen Situation Massenversammlungen in ganz Preußen wohl als der erste Schritt geboten erscheinen, um die Massen zur Aktivität anzuspornen. Allein diese Versammlungen hätten nur dann wirklichen Zweck und Bedeutung, wenn sie als der Anfang und nicht etwa als das Ende der Aktion gedacht, wenn der Schwung, die Losungen, die ganze Tonart dieser Versammlungen von vornherein bewußt darauf angelegt wären, weitere, größere, sich mit der Stimmung der Massen steigernde Aktionen einzuleiten. Zugleich müßte die Losung zu einer energischen Kampfaktion in die Zahlabende, in die örtlichen Zusammenkünfte, in die Werkstätten und Betriebe hineingetragen, mit Ernst und Nachdruck bei jeder Gelegenheit in die Massen geworfen werden. Man kann nie im voraus mit Sicherheit im Namen der Massen für einen bestimmten Fall bestimmte Aktionen in Aussicht stellen. Wozu aber eine Partei von unserer Größe auf jeden Fall verpflichtet ist, wenn sie einmal eine Aktion beginnt, das ist, ihr Möglichstes zu tun, um die Massen auf den Plan zu rufen und ihre Kampflust zu entfesseln. Die Schwierigkeiten dieser Aufgabe in der jetzigen Situation sind allerdings nicht zu unterschätzen. Nach den scharfen Kampfansagen, die unsere Partei bereits mehrmals in der preußischen Wahlrechtssache hat verlauten lassen, nachdem namentlich im Jahre 1910 die im schönsten Schwung gewesene Massenbewegung auf halbem Wege abkommandiert worden ist[1], dürfte es nicht ganz leicht sein, heute die Massen wieder auf die Beine zu bringen und ihnen den Glauben beizubringen, daß es uns mit den Drohungen einer stürmischen Volksbewegung wider das Dreiklassenparlament diesmal bitter Ernst ist.

Jedenfalls aber dürfen wir die Massen zum Protest aufrufen, nur falls es uns selbst damit eben bitter Ernst ist, falls wir bereit sind, soweit es an uns liegt, bis zu den äußersten Konsequenzen den Massen voranzuschreiten. Sollten hingegen Protestversammlungen jetzt die einzige schwächliche Scheinaktion bleiben, dann ist es entschieden besser, von ihnen Abstand zu nehmen. Die Autorität der Partei bei den Massen wie bei den Gegnern leidet mehr, wenn wir durch halbe Aktionen und papierne Resolutionen den irreführenden Eindruck unserer eigenen Unentschlossenheit hervorrufen, als wenn wir vorläufig weiter in Abwarten verharren. Die Ereignisse, die herausfordernde Stellung der Reaktion, die Bedrohung des Koalitionsrechts treiben mit Gewalt dahin, daß den Massen in Preußen früher oder später die Geduld reißen muß und sie beim ersten

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[1] Nachdem der sozialdemokratische Parteivorstand, der Geschäftsführende Ausschuß der preußischen Landeskommission und die Redaktion des „Vorwärts“ im März 1910 beschlossen hatten, den Massenstreik nicht im „Vorwärts“ zu erörtern, um angeblich den Elan der Massen nicht zu hemmen, wurde die Wahlrechtsbewegung nach den Demonstrationen im April 1910 abgebrochen, und die Massen wurden auf die nächsten Reichstagswahlen und den parlamentarischen Kampf vertröstet.