Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 419

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mißhandelten, nachher vorgezogen haben, sich selbst das Leben zu nehmen, als in qualvoller Weise dem entgegenzugehen, was einem deutschen Soldaten droht, wenn er nichts anderes tut, als was im Privatleben jeder Ehrenmann tut: auf eine Beleidigung mit einer Notwehr zu antworten? Kennen Sie auch den neulich passierten anderen Fall in Metz, wo die Leiche eines Soldaten in einer Schlinge vorgefunden wurde? Was da in Metz passiert worden ist, das weiß man bis jetzt noch nicht genau. Die Obrigkeit in Metz behauptet, daß der Soldat sich selbst entleibt habe. Sie wissen, ein Toter ist gewöhnlich ein stiller Mann, er kann nicht widersprechen. Aber der Vater des Soldaten glaubt Grund zu haben, anzunehmen, daß dieser Soldat erst zu Tode gepeinigt wurde und dann die Leiche zum Schein in die Schlinge gesteckt wurde. Was auch da passiert ist, eines ist klar: Es ist sicher eins von den unzähligen Dramen, die in den deutschen Kasernen tagaus, tagein sich abspielen und wo nur selten das Stöhnen der Gepeinigten zu unseren Ohren dringt.[1]

Werte Anwesende! Wie soll ein Mann ein richtiger Vaterlandsverteidiger sein, wenn man erst jahrelang systematisch mit Füßen tritt, was jeden Mann macht: das Ehrgefühl, die Selbstachtung, der aufrechte Wille. Man tritt mit Füßen die Söhne des Volkes, wohlgemerkt, im Rock des Königs. Und dann geht man hinaus und spricht Phrasen von Vaterlandsverteidigung, vom Rock des Königs und von der besonderen Ehre des Soldatenstandes!

Nach alledem ist es kein Wunder, daß mit zweierlei Maß gemessen und gewogen wird in Deutschland. Und obwohl nach der Annahme der Mythologie die Göttin Justitia die Augen verbunden hat, so scheint sie in Preußen-Deutschland immer noch unter ihrer Binde einen Spalt zu finden, um gleich zu erkennen, ob es ein roter oder ein anderer Attentäter ist. (Große Heiterkeit.) Der Mörder und Streikbrecheragent Brandenburg ist freigesprochen worden[2], der Mörder und Streikbrecheragent Keiling ist bloß zu acht Monaten Kerker verurteilt worden[3]. Der Leutnant von Forstner, der eine Aufforderung zum Mord in aller Form getan hat, ist frei-

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[1] Diese Äußerung veranlaßte den Kriegsminister General Erich von Falkenhayn, bei der Berliner Staatsanwaltschaft Strafantrag gegen Rosa Luxemburg zu stellen wegen Beleidigung der Offiziere, Unteroffiziere und Soldaten der preußischen Armee. Siehe dazu Rosa Luxemburg: Gegen die Vertagung des Prozesses. In: GW, Bd. 3, S. 471 f.

[2] Brandenburg, der als Streikbrecher tätig war, hatte am 4. Juni 1913 in Frauendorf bei Stettin einen Arbeiter ohne Grund niedergestochen. Das aus Agrariern und Fabrikanten zusammengesetzte Schwurgericht sprach Brandenburg trotz eindeutiger Schuldbeweise frei.

[3] Keiling, ein aus Berlin stammender, oftmals vorbestrafter Vermittler von Streikbrechern, hatte am 8. Februar 1914 in Tetschen (Böhmen) während eines Streiks den Vertrauensmann des Buchdruckerverbandes durch einen Revolverschuß tödlich verletzt. Von einem österreichischen Gericht wurde er zu acht Monaten schwerem Arrest verurteilt.