Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 40

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Rechenschaft ab, daß zu einem großen Teil der beklagte Zustand in der Natur der Dinge liegt. Jede Körperschaft mit täglicher amtlicher Bürotätigkeit neigt dazu, in Bürokratismus und Schablone zu verfallen. Außerdem haben so hochgestellte Körperschaften naturgemäß ein stark entwickeltes Verantwortlichkeitsgefühl, das unbestreitbar auf die Initiative und die Entschlossenheit stark lähmend wirkt. Eine wirkliche Remedur gegen diesen Mißstand ist nur die lebendige politische Aktivität der Gesamtpartei. Der idealste Parteivorstand einer Partei wie die Sozialdemokratie wäre derjenige, der als das gehorsamste, prompteste und präziseste Werkzeug des Willens der Gesamtpartei fungierte. Aber der idealste Parteivorstand wird nichts ausrichten können, wird unwillkürlich im bürokratischen Schlendrian versinken, wenn die natürliche Quelle seiner Tatkraft, der Wille der Partei, sich nicht bemerkbar macht, wenn der kritische Gedanke, die eigne Initiative der Parteimasse schläft. Ja, noch mehr. Ist die eigne Energie, das selbständige geistige Leben der Parteimasse nicht rege genug, dann haben ihre Zentralbehörden den ganz natürlichen Hang dazu, nicht bloß bürokratisch zu verrosten, sondern auch eine völlig verkehrte Vorstellung von der eignen amtlichen Autorität und Machtstellung gegenüber der Partei zu bekommen. Als frischer Beweis kann der jüngste sogenannte „Geheimerlaß“ unsres Parteivorstands an die Parteiredaktionen[1] dienen, ein Versuch der Bevormundung der Parteipresse, der nicht scharf genug zurückgewiesen werden kann. Aber auch hier wieder gilt es sich klarzumachen: Gegen Schlendrian wie gegen übermäßige Machtillusionen der Zentralbehörden der Arbeiterbewegung gibt es kein andres Mittel als die eigne Initiative, eigne Gedankenarbeit, eignes frisch pulsierendes politisches Leben der großen Parteimasse.

Die berührten Fragen haben im gegenwärtigen Augenblick ein mehr als akademisches Interesse. Von verschiedenen Seiten wird in der Partei erkannt, daß der jetzige Zustand des Parteivorstands besserungsbedürftig ist, eine Ergänzung und Erneuerung unsrer obersten Parteibehörde wird als notwendig anerkannt. So schrieb auch vor kurzem unser Elberfelder Organ aus Anlaß der Marokkodebatte:

„Jedenfalls muß man der ‚Leipziger Volkszeitung‘ darin beipflichten,

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[1] Am 8. August 1911 hatte der Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands mit einem vertraulichen Schreiben an die Redaktionen der Parteipresse versucht, die Diskussion über Differenzen im Verband der Deutschen Buchdrucker, hervorgerufen durch arbeiterfeindliche. Entscheidungen führender Gremien des Verbandes, und eine opportunistische Erklärung der Generalkommission det Gewerkschaften Deutschlands sowie jegliche Kritik an den Maßnahmen leitender Gewerkschaftsinstanzen zu unterbinden.