Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 39

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keit als Masse entfalten, vielmehr Gewehr bei Fuß stets warten, bis ein Kommando von oben ergeht. Die Disziplin und Geschlossenheit der Aktion ist eine Lebensfrage für Massenbewegungen wie die unsre. Aber die Disziplin im sozialdemokratischen Sinne unterscheidet sich grundsätzlich von der Disziplin eines bürgerlichen Militärs. Hier beruht sie auf der gedankenlosen und willenlosen Unterordnung der Masse der Soldaten unter das Kommando der Obrigkeit, das einen fremden Willen ausdrückt. Die sozialdemokratische Disziplin kann nur die Unterordnung jedes einzelnen unter den Willen und den Gedanken der großen Mehrheit bedeuten. Die sozialdemokratische Disziplin kann also niemals bedeuten, daß sich die achthunderttausend organisierten Parteimitglieder dem Willen und den Bestimmungen einer Zentralbehörde, eines Parteivorstandes zu fügen haben, sondern umgekehrt, daß alle Zentralorgane der Partei den Willen der achthunderttausend organisierten Sozialdemokraten auszuführen haben. Die Hauptsache für eine normale Entwicklung des politischen Lebens in der Partei, die Lebensfrage der Sozialdemokratie beruht somit darauf, daß der politische Gedanke und der Wille der Masse der Partei stets wach und tätig bleiben, daß sie sie in steigenden Maße zur Aktivität befähigen. Wir haben freilich den jährlichen Parteitag als oberste Instanz, die den Willen der Gesamtpartei periodisch fixiert. Aber es ist klar, daß die Parteitage nur große allgemeine Richtlinien der Taktik für den Kampf der Sozialdemokratie geben können. Die Anwendung dieser Richtlinien in der Praxis erfordert eine ständige, unermüdliche Gedankenarbeit, Schlagfertigkeit und Initiative. Die Entscheidungen der Parteitage erschöpfen offenbar nicht im entferntesten die laufenden Aufgaben des politischen Kampfes, denn das Leben steht nicht still, und von einem Parteitag zum andern geschehen manche Dinge zwischen Himmel und Erde, auf die die Partei reagieren muß. Diese ganze enorme Aufgabe der täglichen politischen Wachsamkeit und Initiative einem Parteivorstand zuschieben wollen, auf dessen Kommando die bald millionenköpfige Parteiorganisation passiv wartet, ist das Verkehrteste, was es gibt, vom Standpunkte des proletarischen Klassenkampfes. Das ist zweifellos jener verwerfliche „Kadavergehorsam“, den unsre Opportunisten durchaus in der selbstverständlichen Unterordnung aller unter die Beschlüsse der Gesamtpartei suchen wollen.

Man kann in unsern Reihen oft Klagen über den Bürokratismus unsrer obersten Parteibehörden vernehmen, einen Bürokratismus, der die lebendige politische Tatkraft ertöte. Auch diese Klagen sind vollkommen berechtigt. Nur geben sich diejenigen, die sie vorbringen, wohl zu wenig

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