Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 38

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die offizielle Aufforderung des Parteivorstands warten? Wenn heute jedermann in der Partei ausnahmslos die Notwendigkeit der Aktion gegen die Weltpolitik einsieht, konnten denn die lokalen Parteiorganisationen nicht aus eigner Initiative etwas zustande bringen, wie dies z. B. die Stutgarter getan haben[1]? Es ist außerordentlich bequem, die ganze Schuld auf den Parteivorstand zu schieben, und er mag auch tatsächlich an seinem Teil einen großen Mangel an Entschlossenheit und Tatkraft an den Tag gelegt haben. Aber ein nicht minder großes Teil der Schuld kommt auf das Konto derjenigen, die alles Heil stets von oben erwarten und selbst in so klar und unzweifelhaft liegenden Fällen vor ein wenig Selbstbetätigung und eigner Initiative zurückschrecken. Freilich erfordern Aktionen der Partei von diesem Maßstab, um mit voller Wucht zu wirken, Einheitlichkeit und Geschlossenheit, die am besten von einem Zentrum aus herbeigeführt werden können. Doch würde gerade nach dieser Richtung auch das Beispiel einiger großer alter Zentren der Parteibewegung die Wirkung sicher nicht verfehlen, die alle übrigen lokalen Organisationen mitreißen würden. Ja, auch der Parteivorstand als leitendes Zentrum würde sich bald gezwungen sehen, jede kräftige Initiative und jeden guten Anfang zu verallgemeinern, indem er sich zum Mundstück und zum Werkzeug des Parteiwillens machen würde, statt daß sich, wie jetzt, umgekehrt, unsre großen und starken Parteiorganisationen als bloß ausführendes Werkzeug der Weisungen des Parteivorstands betrachten.

Es muß auch offen gesagt werden: Erst dann, erst bei der Umkehrung des jetzigen abnormen Verhältnisses würde das Parteileben auf normaler Basis stehen. Die Befreiung der Arbeiterklasse kann nur das Werk der Arbeiterklasse selbst sein, sagt das Kommunistische Manifest, und es versteht unter Arbeiterklasse nicht etwa einen sieben- oder auch zwölfköpfigen Parteivorstand, sondern die aufgeklärte Masse des Proletariats in eigner Person. Jeder Schritt vorwärts im Emanzipationskampfe der Arbeiterklasse muß zugleich eine wachsende geistige Verselbständigung ihrer Masse, ihre wachsende Selbstbetätigung, Selbstbestimmung und Initiative bedeuten. Wie soll aber die Aktionsfähigkeit und die politische Schlagfertigkeit der großen Volksmasse sich entwickeln, wenn die Vorhut dieser Masse, die in sozialdemokratischen Parteiorganisationen vereinigten besten, aufgeklärtesten Kreise ihrerseits keine Initiative und Selbständig-

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[1] Am 15. Juli 1911 hatte in Stuttgart eine Protestversammlung stattgefunden, auf der Karl Liebknecht als Referent eine Resolution gegen die Marokkopolitik des deutschen Imperialismus einbrachte, die einmütig angenommen wurde.