Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 398

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-3/seite/398

Was habe ich aber in Wirklichkeit von dem sogenannten Vorgesetztenmord ausgeführt? Etwas total anderes! Ich hatte in meiner Rede darauf hingewiesen, daß der heutige Militarismus von seinen offiziellen Verfechtern gewöhnlich mit der Phrase von der notwendigen Vaterlandsverteidigung begründet wird. Wäre dieses Vaterlandsinteresse ehrlich und aufrichtig gemeint, dann – so führte ich aus – brauchten die herrschenden Klassen ja nichts anderes zu tun, als die alte Programmforderung der Sozialdemokratie, das Milizsystem, in die Tat umzusetzen. Denn nur dieses sei die einzig sichere Gewähr für die Verteidigung des Vaterlandes, da nur das freie Volk, das aus eigenem Entschlusse gegen den Feind ins Feld rückt, ein ausreichendes und zuverlässiges Bollwerk ist für die Freiheit und Unabhängigkeit des Vaterlandes. Nur dann könne es heißen: Lieb Vaterland, magst ruhig sein! Weshalb also, so fragte ich, wollen die offiziellen Vaterlandsverteidiger von diesem einzig wirksamen System der Verteidigung nichts hören? Nur deshalb, weil es ihnen eben nicht in erster und nicht in zweiter Linie auf die Vaterlandsverteidigung ankommt, sondern auf imperialistische Eroberungskriege, zu denen die Miliz allerdings nichts taugt. Und ferner scheuen sich wohl deshalb die herrschenden Klassen, dem arbeitenden Volke die Waffen in die Hand zu drücken, weil das böse soziale Gewissen der Ausbeuter sie befürchten läßt, die Waffe könnte auch einmal nach einer Richtung hin losgehen, die den Herrschenden nicht lieb ist.

Also das, was ich als die Befürchtung der herrschenden Klassen formuliert hatte, wird mir jetzt vom Staatsanwalt auf das Wort seiner unbeholfenen Kronzeugen hin als meine eigene Aufforderung imputiert! Hier haben Sie wieder einen Beweis dafür, welchen Wirrwarr in seinem Hirn die absolute Unfähigkeit angerichtet hat, der Gedankenbahn der Sozialdemokratie zu folgen.

Ebenso grundfalsch ist die Behauptung der Anklage, ich hätte das holländische Beispiel empfohlen, wonach es in der Kolonialarmee dem Soldaten freisteht, einen ihn mißhandelnden Vorgesetzten niederzumachen. In Wirklichkeit sprach ich damals im Zusammenhang mit dem Militarismus und den Soldatenmißhandlungen von unserem unvergeßlichen Führer Bebel und wies darauf hin, daß eines der wichtigsten Kapitel seines Lebenswerkes der Kampf im Reichstag gegen Soldatenschinder war, wobei ich zur Illustration aus dem stenographischen Bericht über die Reichstagsverhandlungen – und diese sind, soviel ich weiß, gesetzlich erlaubt – mehrere Reden Bebels zitierte, unter anderem auch jene Ausführungen aus dem Jahre 1893 über den Brauch in der holländischen Kolo-

Nächste Seite »