Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 397

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digkeit dazu führen, daß auf einer gewissen Höhe der Entwicklung die bestehende Gesellschaftsordnung beseitigt und an ihre Stelle die höhere, sozialistische Gesellschaftsordnung gesetzt werden muß. So agitieren wir, so heben wir durch die adelnde Wirkung der geschichtlichen Perspektiven, auf deren Boden wir uns stellen, auch das sittliche Leben der Massen. Von denselben großen Gesichtspunkten aus führen wir – weil sich bei uns Sozialdemokraten alles zu einer harmonischen, geschlossenen, wissenschaftlich fundierten Weltanschauung fügt – auch unsere Agitation gegen den Krieg und den Militarismus. Und wenn der Herr Staatsanwalt mit seinem armseligen Kronzeugen das alles als eine simple Hetzarbeit auffaßt, so liegt das Rohe und Simplistische dieser Auffassung einzig und allein an der Unfähigkeit des Staatsanwalts, in sozialdemokratischen Bahnen zu denken.

Ferner hat der Herr Staatsanwalt mehrfach meine angeblichen Hinweise auf den „Vorgesetztenmord“ herangezogen. Diese versteckten, aber jedermann verständlichen Hinweise auf den Offiziersmord sollen ganz besonders meine schwarze Seele und die hohe Gefährlichkeit meiner Absichten enthüllen. Nun, ich bitte Sie, für einen Augenblick sogar die Richtigkeit der mir in den Mund gelegten Äußerung anzunehmen, dann müssen Sie sich bei näherer Überlegung sagen, daß der Staatsanwalt hier eigentlich – im löblichen Bestreben, mich möglichst schwarz zu malen – völlig aus der Rolle gefallen ist. Denn wann und gegen welche „Vorgesetzten“ soll ich zum Mord aufgefordert haben? Die Anklage selbst behauptet, ich hätte die Einführung des Milizsystems in Deutschland befürwortet, hätte in diesem System als das Wesentliche die Pflicht bezeichnet, den Mannschaften die Handwaffe – wie dies in der Schweiz geschieht – mit nach Hause zu geben. Und daran – wohlgemerkt: daran – soll ich den Hinweis geknüpft haben, daß die Waffen auch einmal nach einer anderen Richtung losgehen könnten, als den Herrschenden lieb ist. Es ist also klar: Der Herr Staatsanwalt beschuldigt mich, zum Morden nicht gegen die Vorgesetzten des heutigen deutschen Heeressystems, sondern – gegen die Vorgesetzten der künftigen deutschen Milizheere aufgestachelt zu haben! Unsere Propaganda des Milizsystems wird aufs schärfste bekämpft und wird mir gerade in der Anklage als Verbrechen angerechnet. Und gleichzeitig fühlt sich der Staatsanwalt veranlaßt, sich des durch mich bedrohten Lebens der Offiziere dieses verpönten Milizsystems anzunehmen. Noch ein Schritt und der Herr Staatsanwalt wird im Eifer des Gefechts gegen mich die Anklage erheben, daß ich zu Attentaten auf den Präsidenten der künftigen deutschen Republik aufgestachelt habe!

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