Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 396

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Gefühle geschildert hat, nichts als ein plattes, geistloses Zerrbild sowohl meiner Reden wie der sozialdemokratischen Agitationsweise im allgemeinen war. Als ich diesen Ausführungen des Staatsanwalts lauschte, da mußte ich innerlich lachen und denken: Hier haben wir wieder ein klassisches Beispiel dafür, wie wenig formale Bildung ausreicht, um die sozialdemokratischen Gedankengänge, um unsere Ideenwelt in ihrer ganzen Kompliziertheit, wissenschaftlichen Feinheit und historischen Tiefe zu begreifen, wenn die soziale Klassenzugehörigkeit diesen Umständen hindernd im Wege steht. Hätten Sie, meine Herren Richter, den einfachsten, ungebildetsten Arbeiter aus jenen Tausenden gefragt, die meinen Versammlungen beiwohnten, er hätte Ihnen ein ganz anderes Bild, einen ganz anderen Eindruck von meinen Ausführungen gegeben. Ja, die schlichten Männer und Frauen des arbeitenden Volkes sind wohl imstande, unsere Gedankenwelt in sich aufzunehmen, die sich im Hirn eines preußischen Staatsanwalts wie in einem schiefen Spiegel als ein Zerrbild reflektiert. Ich will dies jetzt eingehender an einigen Punkten nachweisen.

Der Herr Staatsanwalt hat mehrmals wiederholt, daß ich die Tausende meiner Zuhörer, schon bevor jene inkriminierte Äußerung gefallen ist, die den Höhepunkt meiner Rede gebildet haben soll, „maßlos aufgehetzt“ hätte. Darauf erkläre ich: Herr Staatsanwalt, wir Sozialdemokraten hetzen überhaupt nicht auf! Denn was heißt „hetzen“? Habe ich etwa den Versammelten einzuschärfen versucht: Wenn ihr im Kriege als Deutsche in Feindesland, zum Beispiel nach China, kommt, dann haust so, daß kein Chinese nach hundert Jahren wagt, einen Deutschen mit scheelen Blicken anzusehen?[1] Hätte ich so gesprochen, dann wäre das allerdings eine Aufhetzung. Oder habe ich vielleicht in den versammelten Massen den nationalen Dünkel, den Chauvinismus, die Verachtung und den Haß für andere Rassen und Völker aufzustacheln gesucht? Das wäre allerdings eine Aufhetzung gewesen.

Aber so sprach ich nicht, und so spricht nie ein geschulter Sozialdemokrat. Was ich in jenen Frankfurter Versammlungen tat, und was wir Sozialdemokraten stets in Wort und Schrift tun, das ist: Aufklärung verbreiten, den arbeitenden Massen ihre Klasseninteressen und ihre geschichtlichen Aufgaben zum Bewußtsein bringen, sie auf die großen Linien der historischen Entwicklung, auf die Tendenzen der ökonomischen, politischen und sozialen Umwälzungen hinweisen, die sich im Schoße unserer heutigen Gesellschaft vollziehen, die mit eherner Notwen-

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[1] Am 27. Juli 1900 hatte Wilhelm II. in Bremerhaven die Truppen der Chinaexpedition mit einer chauvinistischen Hetzrede, berüchtigt geworden als Hunnenrede, verabschiedet und zu äußerster Brutalität gegenüber den chinesischen Freiheitskämpfern aufgefordert. – Im Jahre 1900 hatte die deutsche Regierung die Ermordung des deutschen Gesandten in Peking während des Aufstandes der Ihotuan zum Anlaß genommen, um durch die Entsendung eines Expeditionskorps nach China ihr Vordringen in Ostasien zu sichern. Zusammen mit den Truppen anderer imperialistischer Mächte schlugen die deutschen Interventionstruppen die chinesische nationale Befreiungsbewegung grausam nieder.