Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 391

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kampf, der alle Augenblicke gewaltige Kraftproben mit dem koalierten [Kapital] zu bestehen hat, der ohne hohen Idealismus und große Gesichtspunkte seinen Weg nicht finden kann, erfordert von seinen Soldaten einen viel höheren geistigen Zensus als ehedem. Wer nur aus kleinlichem Eigennutz, um der Aussicht willen auf den klingenden Mammon der Unterstützung bei Arbeitslosigkeit oder der Lohnerhöhung, in Reih und Glied getreten ist, wird leicht die Fahne verlassen, da in den heutigen schweren Zeiten die unersetzlichen Vorteile und die Siege der Gewerkschaften sich meist nicht in klingender Münze greifen und nicht am nächsten Tage überblicken lassen. Dazu kommt die niederschmetternde Gewalt der Krise, die die schwächsten Existenzen, alte, kranke, unter schweren Familienverhältnissen leidende Arbeiter, dem Terror des Kapitals erbarmungslos preisgibt. So fällt alles, was morsch, brüchig und schwach war in den Gewerkschaften, heute von ihnen ab, um aus dem Abfall den gelben Schutzwall des Kapitals zu bilden.

Aber gerade die Plötzlichkeit seines Wachstums ist der sicherste Gradmesser seiner Kurzlebigkeit. Was auf geistiger Erkenntnis, auf innerer Überzeugung, auf freiem Entschluß der Arbeiterklasse beruht, reift langsam, schreitet zäh und bedächtig vorwärts. Jeder Fußbreit an Klassenaufklärung und Organisation des modernen Proletariats ist in geduldigem hartem Ringen erkämpft worden. Das plötzliche Anschwellen der gelben Bewegung ist der beste Beweis, daß ihr Fundament nicht die innere dauerhafte Überzeugung ist, sondern daß der Peitschenknall des Kapitals allein plötzlich die Bühne in einen „Ball“ verwandelt, „Verzückungen, Sprünge und Posituren“ hervorgezaubert hat, „daß man ein losgelassenes Tollhaus vor sich zu sehen glaubt“.

Aber das geschichtliche Gesetz des Klassenkampfes läßt sich nicht vergewaltigen noch als Mummenschanz narren. Hinter der grinsenden Fratze des Bajazzo guckt bald das bleiche Gesicht des gequälten Opfers hervor. Die Tanzbelustigungen auf den Sklavenschiffen hinderten nicht, daß gewaltige Sklavenaufstände unaufhörlich aufloderten, solange das infame System dauerte, und manchen schwarzen „Ball“ in Schreckensszene wandelten. Der gepeitschte russische Bauer der 80er Jahre stand fünfzehn Jahre später im dichtesten Haufen der Revolution, rüttelte derb an den Pfeilern des Absolutismus und steckte seinem Herren den roten Hahn unters Dach. Auf die hurrapatriotischen Wahlen des Jahres 1907, in denen Tausende abhängiger Arbeiter, Angestellte, Kleinbürger durch den politischen Terror gezwungen waren, die Sozialdemokratie zu verraten[1],

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[1] Unter der Leitung des Reichskanzlers Bernhard von Bülow war der Wahlkampf zu den Reichstagswahlen am 25. Januar 1907 durch eine Hetzkampagne der Reaktion gegen alle oppositionellen Kräfte, besonders gegen die Sozialdemokratie, und durch chauvinistische Propaganda für die Weiterführung des Kolonialkrieges gegen die Hereros und Hottentotten in Afrika gekennzeichnet. (Im Jahre 1904 hatten sich in Südwestafrika die Völker der Hereros und der Hottentotten gegen die Kolonialherrschaft des deutschen Imperialismus erhoben. Der Aufstand, der den Charakter eines Freiheitskrieges trug, endete mit einer verlustreichen Niederlage dieser Völker, nachdem die deutschen Kolonialtruppen drei Jahre lang mit äußerster Grausamkeit gegen sie vorgegangen waren.) Obwohl die Sozialdemokratie die größte Stimmenzahl erzielte, erhielt sie auf Grund der veralteten Wahlkreiseinteilung sowie der Stichwahlbündnisse der bürgerlichen Parteien gegen die Sozialdemokratie nur 43 Mandate gegenüber 81 im Jahre 1903.