Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 387

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lich-kapitalistischen Klassenherrschaft, im offenen und klaffenden Widerspruch mit dem Denken und Fühlen der Masse des arbeitenden Volkes.

Die feindliche Stellung der Monarchie zur Sozialdemokratie ist freilich nicht neu. Die vielen Reden und Aussprüche des derzeitigen Trägers der Krone sind ja dafür Zeugnis genug. Über diese Äußerungen brauchten wir uns indes bis jetzt um so weniger aufzuregen, als sie uns seit jeher von größtem Nutzen waren. Anders seit dem immer aktiveren Eingreifen der Monarchie in die Tageskämpfe der allgemeinen Politik. Unter Bismarck war die Hohenzollernmonarchie selbst mehr eine Dekoration der kapitalistischen Klassenherrschaft, die sich mit aller Brutalität in der neudeutschen Reichsherrlichkeit zurechtsetzte. Seit dem imperialistischen Kurs wird sie immer mehr als persönliches Regiment ein selbständiger, aktiver Faktor des öffentlichen Lebens. Schon die berühmte Oeynhausener Rede[1] als erster Vorläufer der jetzigen Anschläge gegen das Koalitionsrecht; die Dekoration des Reichskanzlers nach jener denkwürdigen Adventsnacht des Jahres 1902, in der der Hungerzolltarif durchgedrückt wurde[2]; das Hunnenevangelium vor der Chinaexpedition[3], mit der unsere weltpolitischen Abenteuer begannen; die Algeciraspolitik, die uns in die Marokkoaffäre hineintrieb und uns zuletzt eine Kongokolonie aufhalste[4]; jetzt die Ermunterung und Auszeichnung der Zabernhelden[5] – alles das fügt sich zu einer geschlossenen Kette tiefgreifender politischer Vorstöße von aktuellster Bedeutung für die Schicksale der Arbeiterklasse. Die schlimmsten Feinde des aufstrebenden Proletariats, des geistigen Fortschritts und des Rechtsstaates, die Nutznießer des Brotwuchers, des Scharfmachertums und des imperialistischen Länderschachers, erblicken heute in der Monarchie ihre Hochburg und ihren Herold. Die jüngste Jubiläumsfeier[6] war in dieser Beziehung ein Zeitbild von hoher symptomatischer Bedeutung. Sie hat unter prasselndem Feuerwerk, in bengalischer Beleuchtung das gesamte besitzende Deutschland gezeigt, an den Stufen des Thrones zu einem kompakten hurrapatriotischen Lager gegen das klassenbewußte, um

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[1] In Oeynhausen hatte Wilhelm II. am 6. September 1898 die sogenannte Zuchthausvorlage angekündigt, derzufolge die Organisierung und Durchführung von Streiks mit schweren Zuchthausstrafen geahndet werden sollten.

[2] Am 14. Dezember 1902, unmittelbar nach der Annahme des Zolltarifs im Reichstag (Am 14. Dezember 1902 waren im Reichstag ein neues Zollgesetz und neue Zolltarife beschlossen worden, durch die die Agrar- und einige Industriezölle wesentlich erhöht wurden. Die Sozialdemokraten, die mit allen parlamentarischen Mitteln und unterstützt durch eine breite Protestbewegung in ganz Deutschland gegen den Zollwucher gekämpft hatten, wurden durch wiederholten Bruch der Geschäftsordnung des Reichstags bei ihrem Auftreten im Plenum behindert. Die neuen Zolltarife traten am 1. März 1906 in Kraft und brachten der Mehrheit der Bevölkerung eine erhebliche Verschlechterung ihrer Lebenslage.), hatte Wilhelm 11. dem Reichskanzler Bernhard von Bülow telegraphisch für diesen „Erfolg“ gedankt und mitgeteilt, daß er ihn in den Fürstenstand erhoben habe. Aus persönlichen Gründen lehnte von Bülow diese Standeserhebung zunächst ab.

[3] Am 27. Juli 1900 hatte Wilhelm II. in Bremerhaven die Truppen der Chinaexpedition mit einer chauvinistischen Hetzrede, berüchtigt geworden als Hunnenrede, verabschiedet und zu äußerster Brutalität gegenüber den chinesischen Freiheitskämpfern aufgefordert. – Im Jahre 1900 hatte die deutsche Regierung die Ermordung des deutschen Gesandten in Peking während des Aufstandes der Ihotuan zum Anlaß genommen, um durch die Entsendung eines Expeditionskorps nach China ihr Vordringen in Ostasien zu sichern. Zusammen mit den Truppen anderer imperialistischer Mächte schlugen die deutschen Interventionstruppen die chinesische nationale Befreiungsbewegung grausam nieder.

[4] Mit dem Algecirasvertrag vom 7. April 1906 war die erste Marokkokrise von 1905 beendet werden. Der Vertrag garantierte Marokko formal die Unabhängigkeit, festigte aber den Einfluß Frankreichs in Marokko, indem er die Polizei des Landes auf fünf Jahre französischer und spanischer Kontrolle unterstellte. Deutschland hatte sich durch seine imperialistische Abenteuerpolitik außenpolitisch fast völlig isoliert. – Im Frühjahr 1911 hatte Frankreich den Versuch unternommen, seine Herrschaft auf ganz Marokko auszudehnen und endgültig zu festigen. Dieses Vorgehen nahm die deutsche Regierung zum Anlaß für die Erklärung, Deutschland fühle sich nicht mehr an das Algecirasabkommen gebunden. Am 1. Juli 1911 entsandte die deutsche Regierung die Kriegsschiffe „Panther“ und „Berlin“ nach Agadir und beschwor durch diese Provokation eine unmittelbare Kriegsgefahr herauf. Das Eingreifen Englands zugunsten Frankreichs zwang die deutschen Kolonialpolitiker zum Nachgeben. Zwischen Frankreich und Deutschland wurde ein Kompromiß geschlossen. – Während der Marokkokrise verhandelten der französische Botschafter in Deutschland Jules Cambon und der Staatssekretär des Äußeren Alfred von Kiderlen-Wächter hinter verschlossenen Türen über Kompensationen im Kolonialbesitz. Diese Verhandlungen führten am 4. November 1911 zu den Marokko- und Kongoabkommen zwischen Deutschland und Frankreich. Im Marokkoabkommen stimmte Deutschland der Beherrschung Marokkos durch Frankreich zu, während Frankreich das Prinzip der „offenen Tür“ für Marokko garantierte. Im Kongoabkommen wurde ein Gebietsaustausch in Äquatorialafrika vereinbart, durch den Deutschland gegen Territorien im Tschadgebiet einen zwar größeren, wirtschaftlich aber wertlosen Teil von Französisch-Kongo erhielt.

[5] Im November 1913 war es in Zabern (Unterelsaß) zu schweren Ausschreitungen des preußischen Militärs gegenüber den Einwohnern gekommen, die gegen die Beschimpfung der Elsässer durch einen Leutnant der Garnison protestiert hatten. Der Regimentskommandeur Oberst von Reuter ließ die Demonstrationen der Bevölkerung mit Waffengewalt auseinanderjagen und Verhaftungen vornehmen. Diese Vorgänge lösten in ganz Deutschland, selbst bei Teilen des Bürgertums, einen Entrüstungssturm gegen die Militärkamarilla aus, und der Reichstag mißbilligte nach heftigen Debatten mit 293 gegen 54 Stimmen bei 4 Stimmenthaltungen die Stellung der Regierung, die die Vorgänge zu bagatellisieren versuchte. Oberst von Reuter, gegen den vom 5. bis 8. Januar 1914 vor einem Kriegsgericht in Straßburg verhandelt wurde, wurde von aller Schuld freigesprochen und im Januar 1914 vorn deutschen Kaiser demonstrativ mit einem Orden dekoriert.

[6] Im Juni 1913 wurde das 25jährige Regierungsjubiläum Wilhelms II. mit großen Feiern monarchistisch-militaristischen Charakters begangen. –

S. 381, Fußnote 1.