Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 383

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bürgerlichen Sozialpolitik seit jeher ist, daß arbeitende Frauen und Jugendliche stärker geschützt werden müssen als erwachsene männliche Arbeiter, so müßten wir bei einer Forderung des Zehnstundentags für sechzehnjährige Kinder für Erwachsene zunächst den Elf- oder Zwölfstundentag fordern, was ein offenbarer Widersinn ist. Es läge aber auch eine zu bittere Ironie darin, wenn wir als das Nächsterreichbare auf internationalem Wege im Jahre des Heils 1914 wirklich nur das bescheidene Maß an Frauen- und Kinderschutz fordern sollten, das in England vor 70 Jahren ein Lord Ashley mit seinen torystischen Freunden verfochten und am 8. Juni 1847 als Gesetz durchgedrückt hatten.

Statt für Frauen und halbe Kinder den Zehnstundentag, haben wir allen Anlaß, heute mit mehr Nachdruck denn je für die Erwachsenen den gesetzlichen achtstündigen Arbeitstag als das Maximum laut zu fordern. Wenn unsere Abgeordneten irgend etwas davon abhält, diese selbstverständliche Programmforderung in Form eines Gesetzentwurfs oder einer Resolution zu beantragen, so ist es sicher nur die gründliche und freilich auch wohlbegründete Überzeugung, daß von der heutigen Reichstagsmehrheit für diesen elementaren Anspruch der Arbeiter Verständnis erwarten gerade soviel hieße, wie tauben Ohren zu predigen. Würde aber der Achtstundentag im Reichstag kein Echo finden, in den Herzen von Millionen außerhalb des Reichstags muß er bei den heutigen Zeiten des Elends und der Gedrücktheit sicher ein begeistertes Echo finden als eine Botschaft des ungebrochenen Willens, des unnachgiebigen Trotzes, der kampffreudigen Hoffnung – trotz alledem!

Schließlich können wir uns bei unserem trostlosen Amt, an den harten Felsen der bürgerlichen Sozialpolitik um einige lindernde Tropfen zu pochen, von unseren bittersten Feinden, den Junkern, ein ermunterndes Beispiel nehmen. Ein Beispiel, nicht bloß wie man durch die zähe Ausnutzung der eigenen Macht selbst als Minderheit seinen Willen durchzusetzen versteht, sondern auch wie man eine praktisch ganz aussichtslose Position bis zum äußersten verteidigt. Ein Muster letzterer Art war sicher seinerzeit die Doppelwährungsaktion[1] der Arendt und Genossen. Hatten es doch die Silbermänner fertiggebracht, mit ihrem stockreaktionären Pro-

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[1] Die Doppelwährung war der Versuch, die Geldeinheit gleichzeitig an das Gold und an das Silber zu binden und ein gesetzlich festgelegtes Wertverhältnis zwischen beiden zu erreichen. Durch die Schwankungen des gegenseitigen Wertes von Gold und Silber auf dem Weltmarkt scheiterte dieser Versuch. Der sinkende Wert des Silbers bewirkte, daß nach 1871 die wichtigsten Staaten der Erde, darunter auch Deutschland, zur Goldwährung übergingen. Die Doppelwährung, besonders von den USA mit ihrer hohen Silberproduktion propagiert, wurde in Deutschland vor allem von den Agrariern hartnäckig vertreten.