Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 382

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Das hervorragendste dieser Mittel, gleichsam der Zentralpunkt aller sozialen Abhilfe, ist der gesetzliche Achtstundentag. Die Losung des Achtstundentages, schon an der Wiege der Arbeiterbewegung von der alten Internationale proklamiert, durch bald ein Vierteljahrhundert Maifeier geheiligt, bleibt bis auf den heutigen Tag der Schwerpunkt unseres sozialpolitischen Programms. Ja, sie wird mit der jüngsten Entwicklung und ihren Begleiterscheinungen immer praktischer, d. h. immer dringender notwendig für die Arbeiterklasse.

Wenn der Nationalliberale Böttger gegen den Achtstundentag kein triftigeres Argument vorzuführen weiß, als daß bei seiner Einführung „die Zahl der Arbeiter verdreifacht werden müßte“, so ist damit der glänzendste Beweis erbracht, daß der Achtstundentag allein ein wirksames Abhilfemittel gegen die heutige furchtbare Arbeitslosigkeit wäre.

Wenn es bereits ein Axiom der sozialökonomischen Wissenschaft geworden ist, daß lange Arbeitszeit mit niedrigen Löhnen, kurze Arbeitszeit aber mit hohen Löhnen Hand in Hand geht, dann ergibt sich mit zwingender Logik, daß der Achtstundentag allein• heute im Budget des Proletariers das nötige Gleichgewicht mit der steigenden Lebensmittelteuerung herbeiführen könnte.

Wenn endlich heute ein Giesberts sich im Reichstag genötigt sieht, in bezug auf einen so führenden Zweig der Produktion wie die Schwereisenindustrie für den Achtstundentag anstelle des heutigen Zwölfstundentags zu plädieren[1], so zeigt das, wie fest unsere Agitation für den Achtstundentag seit Jahrzehnten bereits auch in den Massen der Zentrumsarbeiter Wurzeln geschlagen hat und wie sehr wir diese Programmforderung jetzt in den Mittelpunkt unserer Aktion stellen müssen.

Unsere Abgeordneten werden wohl auch besonders triftige Gründe gehabt haben, weshalb sie in ihrer Resolution zu der Internationalen Regierungskonferenz in Bern für Arbeiterinnen und Jugendliche[2] zunächst den Zehnstundentag als Maximum der Arbeitszeit fordern. Die Praxis, namentlich in der Textilindustrie, hat die Forderung des Zehnstundentags auch für Frauen längst überholt. Da es zudem Elementarsatz selbst aller

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[1] Johann Giesberts, Zentrumsabgeordneter und Vorstandsmitglied des christlichen Metallarbeiterverbandes, war am 14. Januar 1914 im Reichstag für die Einführung des Achtstundentages in der Schwerindustrie eingetreten, nachdem er dem sozialdemokratischen Abgeordneten Karl Spiegel zugestimmt hatte, der die unhaltbaren Arbeitsbedingungen in diesem Industriezweig geschildert und dringend gesetzliche Abhilfe gefordert hatte.

[2] Vom 16. bis 25. September 1913 war in Bern eine vom Schweizer Bundesrat einberufene Internationale Konferenz für Arbeiterschutz durchgeführt worden. Sie hatte sich mit Fragen der industriellen Nachtarbeit Jugendlicher und dem Zehnstundentag für Frauen und Jugendliche in der Industrie beschäftigt.