Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 370

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Er schweigt, wenn in das Ruhrrevier bei einem Massenstreik Militär einmarschiert, um die hungernden Arbeiter bei der geringsten Regung im Blute zu ersticken.[1]

Doch wozu so weite Beispiele suchen? Die brutalste Herrschaft des Militarismus über das Volk wird uns jeden Tag schmerzlich klar, wenn wir das Ohr an die Mauern unserer Kasernen drücken und das erstickte Stöhnen gepeinigter Soldaten vernehmen, über deren Menschenwürde, Gesundheit, ja Leben der eiserne Moloch zermalmend hinwegschreitet, ohne daß im Reichstag die offiziellen Vertreter dieser Schmach vom Entrüstungssturm der „überwältigenden Mehrheit“ weggefegt würden.

Und ist nicht das Morden und das Verstümmeln im Kriege der eigentliche Beruf und die wahre Natur jener „Militärbehörden“, deren gekränkte Autorität in Zabern die Zähne gezeigt hat? Wurden in Libyen[2], auf dem Balkan[3] nicht friedliche Bürger zu Tausenden niedergemetzelt, Krüppel massakriert, „Zivilbehörden“ in die Gefangenschaft geschleppt, nur daß es fremde Bürger und Behörden waren? Wo blieb endlich der Entrüstungssturm im Reichstag, als deutsche Militärs wehrlose Hereroweiber und Kinder in die Wüste trieben, um sie dort in Wahnsinn verröcheln zu lassen?[4]

Was in Zabern als Verstoß wider Gesetz und Recht verschrien wird, wird von demselben Bürgertum als Heldentat mit dem Lorbeer geschmückt, wenn es sich um Reichsbürger anderer Hautfarbe und anderer Klasse handelt oder wenn in Kriegszeiten zum Recht und zur Pflicht erhoben wird, was ein ruchloses Verbrechen wider Menschlichkeit und Sitte ist.

Dem klassenbewußten Proletariat aber stehen die schwarzen Opfer des deutschen Militarismus und die Kriegsopfer aller Rassen und Zungen genauso nahe wie die Bürger im Elsaß. Gemessen an allen diesen Greueln und Bluttaten des Militarismus, sind seine Zaberner Streiche

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[1] Bei dem Bergarbeiterstreik 1912 im Ruhrrevier war Militär und Polizei mit brutalem Terror gegen die Streikenden vorgegangen und hatte viele Arbeiter verletzt und vier getötet. – Im Frühjahr 1912 standen in mehreren europäischen Ländern Millionen Bergarbeiter im Streik für höhere Löhne und für die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen. Größeren Umfang nahm der Kampf in England und Deutschland an, wo eine Million bzw. 250 000 Arbeiter beteiligt waren und teilweise Polizei und Militär gegen die Streikenden eingesetzt wurde, ohne daß es gelang, die Kampffront zu brechen. In England wurde die Regierung zu einem Kompromiß gezwungen und beschloß innerhalb ungewöhnlich kurzer Zeit ein Gesetz über Mindestlöhne für Bergarbeiter; im Ruhrrevier in Deutschland endete der Streik dagegen mit einer Niederlage der Arbeiter, da die Gewerkschaftsführer gegen den Willen der Bergarbeiter den Streik abbrachen.

[2] Im September 1911 hatte Italien einen Krieg gegen das türkische Reich provoziert. Unter Ausnutzung der imperialistischen Gegensätze um Marokko gelang es Italien im Oktober 1912, Tripolis und die Cyrenaica zu annektieren.

[3] Von Oktober 1912 bis Mai 1913 führten Bulgarien, Serbien, Griechenland und Montenegro Krieg gegen das türkische Reich, der mit einer Niederlage der Türkei endete. Dieser Krieg war in seiner Haupttendenz ein nationaler Befreiungskrieg gegen die türkische Fremdherrschaft auf dem Balkan. Infolge der Einmischung der imperialistischen Großmächte gefährdete er den Frieden in Europa.

[4] Bei dem Unterdrückungsfeldzug 1904–1907 gegen die Hereros in Südwestafrika (Im Jahre 1904 hatten sich in Südwestafrika die Völker der Hereros und der Hottentotten gegen die Kolonialherrschaft des deutschen Imperialismus erhoben. Der Aufstand, der den Charakter eines Freiheitskrieges trug, endete mit einer verlustreichen Niederlage dieser Völker.) hatten die deutschen Kolonialtruppen die Eingeborenen in die Wüste getrieben und von den Wasservorkommen abgeschnitten. General Lothar von Trotha hatte Befehl gegeben, keine Gefangenen zu machen und auf Frauen und Kinder zu schießen, so daß die Hereros einem grausamen Tod ausgeliefert waren.