Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 369

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-3/seite/369

ben, dazu lag kaum ein Anlaß vor. Ließ sich doch an den Fingern abzählen, daß die „überwältigende Mehrheit“ an ihrem bürgerlichen Teil im nächsten Augenblick so gründlich in die Hosen machen wird wie der kleine Leutnant, über den sie in helle Entrüstung geraten war.

Die „Schicksalsstunde“ des deutschen Parlamentarismus wie der ganzen deutschen Entwicklung lag auch gar nicht in der Dezembersitzung des Reichstages, in der über Zabern Redeschlachten geliefert wurden, sondern – wenn man schon so will – in der Junisitzung des vergangenen Jahres, in der die ungeheuerlichste Militärvorlage[1] von der bürgerlichen Mehrheit einstimmig angenommen wurde. Die Illusion auch nur für einen Moment im Volke wecken, als ob nach allem Vorhergegangenen, nach dem tollen Triumphzug des Imperialismus in den letzten Jahren, nach dem tausendfach bewährten elenden Bankerott des Liberalismus, nach dem erzreaktionären Verrat des Zentrums an allen Fortschrittsinteressen, jetzt plötzlich eine Schicksalswendung aus eigener Kraft des bürgerlichen Parlamentarismus möglich wäre, kann nimmermehr unsere Aufgabe sein. Nicht aus einem unerwarteten oppositionellen Johannistrieb des bürgerlichen Parlaments, nur aus dem außerparlamentarischen Druck und der Machtentfaltung der Volksmassen kann im heutigen Deutschland jeder Fußbreit politischen Fortschritts und bürgerlicher Freiheit erstehen – diese einfache Lehre bei jeder Gelegenheit unbeirrt zu verkünden muß unsere vornehmste Aufklärungsarbeit sein. Das ewige und unbelehrbare Harren auf die Besserung der bürgerlichen Opposition ist hingegen das typische Geschäft des Freisinns, das er namentlich in bezug auf die Nationalliberalen mit so schönem Erfolg seit Jahrzehnten betreibt.

Wir haben jedoch noch triftigere Gründe, unsere Stimmen nicht mit dem Chorus der entrüsteten Liberalen und des Zentrums zu vermischen. Bei diesem rührt die ganze Entrüstung über den Fall Zabern daher, weil er den Schein der bürgerlichen Gesetzlichkeit, den Nimbus der „Zivilbehörden“ und ihrer angeblichen Unabhängigkeit von den „Militärbehörden“ zerrissen hat. Wäre der lahme Schuster in Zabern bei einem Streikkrawall massakriert worden, kein liberaler oder ultramontaner Hahn hätte nach ihm gekräht. Schwieg doch der bürgerliche Entrüstungschorus, als in Moabit Jagows Untergebene den Arbeiter Herrmann totgehackt hatten.[2] Er schwieg, als in Mansfeld die Maschinengewehre auf streikende Arbeiter gerichtet wurden.[3]

Nächste Seite »



[1] Ende März 1913 war im Reichstag eine Militär- und Deckungsvorlage eingebracht worden, die die größte Heeresverstärkung seit Bestehen des Deutschen Reiches vorsah. Ein Teil der zusätzlichen finanziellen Mittel sollte durch einen außerordentlichen Wehrbeitrag und durch Besteuerung aller Vermögen über 10 000 Mark aufgebracht, der übrige Teil auf die Schultern der werktätigen Bevölkerung abgewälzt werden. Am 30. Juni wurde die Militär- und Deckungsvorlage im Reichstag angenommen. Die sozialdemokratische Fraktion lehnte die Militärvorlage ab, stimmte aber einer einmaligen Vermögensabgabe [dem sogenannten Wehrbeitrag] und einer Vermögenszuwachssteuer zur Finanzierung der Heeresvorlage zu. Der Abstimmung waren scharfe Auseinandersetzungen in der Fraktion vorausgegangen, die damit endeten, daß mit Verweis auf die Fraktionsdisziplin der Widerstand von 37 Abgeordneten unterdrückt wurde. Diese Zustimmung zu den Gesetzen bedeutete das Aufgeben des Grundsatzes „Diesem System keinen Mann und keinen Groschen!“

[2] In Berlin-Moabit war es im Herbst 1910 in Verbindung mit einem Streik bei der Firma Kupfer & Co. und den Provokationen der von der Polizei unterstützten bewaffneten Streikbrecher zu schweren Unruhen gekommen, an denen 20 000 bis 30 000 Menschen beteiligt waren. Bei den Auseinandersetzungen zwischen der Arbeiterklasse und der Staatsgewalt gab es zahlreiche Verwundete und zwei Tote, darunter den Arbeiter Robert Hermann.

[3] Vom 4. Oktober bis 13. November 1909 hatten etwa 10 000 Mansfelder Bergarbeiter gegen die Maßregelung gewerkschaftlicher Vertrauensleute durch die Zechenherren und für die volle Gewährleistung des Koalitionsrechtes gestreikt. Um den Streik zu unterdrücken, war mit Maschinengewehren ausgerüstetes Militär in das Streikgebiet entsandt worden. Am 13. November mußte der Streik ergebnislos abgebrochen werden.