Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 368

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Dieser operettenhafte Ausgang der ganzen Affäre ist wahrhaftig keine Überraschung. Sicherlich gab es in unserer Presse und auch in der Fraktion kein so kindlich naives Gemüt, das im Ernst von den Pappenheimern des Zentrums oder gar des Liberalismus herkulische Heldentaten im Zweikampf mit dem Militarismus und dem Absolutismus erwartete. Ist doch das niedliche Stück mit dem nämlichen Ausgang nicht zum ersten Mal im deutschen Reichstag aufgeführt worden: Der große Theaterdonner nach der „Daily Telegraph“-Affäre[1] wie der kleine Theaterdonner nach der Marienburger Rede vom Instrument des Himmels[2] haben auch dem unverbesserlichsten Optimisten eine Ahnung davon geben können, wie dergleichen Zusammenstöße zwischen der „geschriebenen Verfassung“ und der realen, auf Kanonen gestützten „Verfassung“ im Lassalleschen Sinne auszugehen pflegen.

War aber der Ausgang des Sturmes im Reichstag wie im bürgerlichen Blätterwald auch ohne sonderliche Zauberei vorauszusehen, dann fragt es sich, ob das rückhaltlose Miteinstimmen unsererseits in den bürgerlichen Chor der Entrüstung eigentlich am Platze war. Es fragt sich, ob die Rolle vieler Kritiker allen Figuren der traurigen Posse gegenüber von Anfang an uns nicht besser angestanden hätte als diejenige eifriger Paukenschläger im Orchester liberal-ultramontanen Maulheldentums.

Als unsere Presse die plumpen Sprünge des Militarismus in Zabern mit gehöriger Wucht geißelte, als unsere Reichstagsfraktion die bürgerlichen Parteien über die Klinge ihres staatsrechtlichen Antrags[3] springen ließ, tat sie sicher nur, was sich für unsere Partei als Pflicht aus der Situation ergab. Aber die Episode des Mißtrauensvotums der „überwältigenden Mehrheit“ mit verhaltenem Atem wie eine Art Rütlischwur oder eine Szene aus dem französischen Revolutionskonvent mitzumachen, im Plakatstil von der „Schicksalsstunde“ und dem „schwarzen Tag“ zu schrei-

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[1] Am 28. Oktober 1908 hatte die englische Zeitung „Daily Telegraph“ ein Interview mit Wilhelm II. veröffentlicht, in dem er u. a. ausführte, daß er England den Feldzugsplan zur Niederwerfung der Buren geliefert habe. Er empfahl den Engländern, mit Deutschland im Fernen Osten gemeinsam vorzugehen, und versuchte, Rußland und Frankreich gegen England auszuspielen. Das Interview erregte im Ausland großes Aufsehen. In Deutschland rief es eine Welle der Empörung hervor, die sich besonders gegen die Selbstherrlichkeit des Kaisers richtete. Es wurden Verfassungsänderungen gefordert, die solche unverantwortlichen Handlungen des Kaisers verhindern sollten.

[2] Am 25. August 1910 hatte Wilhelm II. in einer Rede in Königsberg das angebliche Gottesgnadentum seiner monarchischen Stellung betont, die nicht von Parlamenten oder Volksbeschlüssen abhängig sei, und seinen Willen zur Stärkung des persönlichen Regiments bekundet. Dieses provokatorische Auftreten hatte im In- und Ausland Aufsehen und Empörung hervorgerufen, so daß seine Rede in Marienburg am 29. August 1910 als eine gewisse Korrektur angesehen wurde.

[3] Die sozialdemokratische Fraktion hatte nach dem Mißtrauensvotum gegen den Reichskanzler im Dezember 1913 im Reichstag die Forderung nach Änderung der Verfassung des Deutschen Reiches erhoben. Diese sah vor, den Reichskanzler gegenüber dem Reichstag verantwortlich zu machen, dem Reichstag das Recht zu geben, den Reichskanzler zu entlassen und bei der Frage Krieg oder Frieden mitzuentscheiden. Diese Forderungen der Sozialdemokratie basierten auf bereits im Februar 1912 eingebrachten Anträgen.