Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 365

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auf, während die Arbeiter nur zwischen chronischem Hungern bei Überarbeit und akutem Hunger bei Arbeitslosigkeit pendeln. Der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit wird damit aufs höchste gesteigert, das Joch des Kapitals wird unerträglich. Entmutigung, Verzweiflung, endlich Verzicht auf Selbstachtung und Würde, wie sie in dem Anschwellen der Gelben-Bewegung[1] genau zum Ausdruck kommt, bemächtigen sich heute weiterer Kreise der Arbeiterschaft.

Gegen diese herabdrückende Tendenz haben wir nur ein wirksames Mittel: die sozialistische Revolutionierung der Geister. Mit revolutionären Idealen kann man freilich keinen Hungernden satt machen. Wir wären aber Scharlatane, nicht wert des Vertrauens der Massen, wollten wir die Hungrigen in die leiseste Hoffnung lullen, als hätten wir ein Wundermittel in der Tasche gegen den chronischen wie gegen den akuten Massenhunger in der gegenwärtigen Periode der kapitalistischen Entwicklung. Wir wären ebenso plumpe wie grausame Kurpfuscher, wollten wir den hungernden Proletariern im Ernst einreden, daß alle unsere Projekte und Forderungen zur Linderung der Not der Arbeitslosen bei den herrschenden Klassen des imperialistischen Taumels schließlich etwas anderes als höhnisches Achselzucken zur Antwort finden werden. Am unverzeihlichsten wäre dies, ein halbes Jahrhundert nachdem in Lancershire klipp und klar erklärt worden ist, den Opfern der kapitalistischen Krise sei von Gott und Natur nur eines vorbehalten: „ein, zwei, drei Jahre“ hungernd zu warten, bis das Kapital seiner „lebendigen Maschinerie“ wieder bedürfe.

Mit revolutionären Idealen kann man keinen Hungrigen sättigen, aber man kann ihm Glauben an die Zukunft und damit Mut und Selbstachtung geben, man kann in ihm geistige Energie wecken, die ihm innere Überlegenheit geben und ihn gegen die stärksten physischen Leiden unempfindlich machen. Der hungernde Proletarier ist je nachdem des tiefsten geistigen Falles oder auch des höchsten revolutionären Heldentums fähig. In der Februarrevolution 1848 nahm das Pariser Proletariat, das furchtbar unter der Arbeitslosigkeit litt, freiwillig drei Monate Hunger auf sich, um der provisorischen Regierung zur Einführung der „sozialen Republik“ eine Frist zu gewähren. Es war der felsenfeste Glaube an ihr sozialistisches Ideal, das die Pariser Massen lehrte, mit Mut, Geduld und Würde monatelang zu darben und schließlich für dieses Ideal auf den Barrikaden zu kämpfen und zu sterben. In der englischen Baumwollkrise verschmähten die Hunderttausende Hungernder mit Stolz, in

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[1] Die nach 1880 entstandenen „gelben“ Gewerkschaften waren von den Unternehmern ausgehaltene Streikbrecherorganisationen, die gegen die revolutionären Arbeiter kämpften. Die Bezeichnung „Gelbe“ stammt aus Frankreich, wo die Mitglieder der Streikbrecherorganisationen die Ginsterblüte als Vereinsabzeichen trugen.