Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 335

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kämpfung der Ansichten des Gegners haarscharf an Demagogie grenzt. (Müller [Parteivorstand]: „Und das sagen Sie!“) – Ein drittes Beispiel für die völlige Verständnislosigkeit unserer obersten Behörde gegenüber dem, was wir wirklich anstreben und fordern. Man sagt uns: Wenn ihr hier mit Gewalt eine Diskussion über den Massenstreik und die Bedingungen seiner Anwendung in Deutschland heraufbeschwört und durchsetzt, so zwingt ihr ja uns nur, zu sagen, daß wir heutzutage noch nicht imstande dazu sind, so zwingt ihr uns, die Schwäche unserer Position vor den Gegner preiszugeben („Sehr wahr!“), und wie verkehrt ist die Politik eines Menschen, der da sagt: Ich habe ein mächtiges Schwert gegen dich in der Tasche, aber ich kann es heute noch nicht gebrauchen. Ei, Parteigenossen, das sind Gesichtspunkte, mit denen man die größte Volksbewegung der Weltgeschichte meistern will! Redet ja nicht zu laut, ich bitte Euch, daß wir noch eine gewaltige Schar Unorganisierter haben, sonst könnten es unsere Gegner erfahren, redet ja nicht laut, daß wir gelbe Gewerkschaften[1] haben, denn das ist ja unser Geheimnis. (Heiterkeit und Lachen.) Parteigenossen! Die Schwächen unserer Position sind kein Geheimnis für unsere Gegner („Sehr richtig!“), und es ist lächerlich, sich einzubilden, daß man das Für und Wider, daß man die gesamte Situation, wie sie vom Standpunkt des Massenstreiks besprochen und erwogen werden muß, im geschlossenen Stübchen unter Instanzen geheim behandeln soll. Man wirft uns vor, sowohl in der „Neuen Zeit“ wie auch hier in der Rede des Genossen Scheidemann, wir seien ja beinahe Putschisten („Sehr richtig!“), wir seien Verschwörer. Das sagen Leute, die die typische Verschwörertaktik auf den modernen Massenstreik anwenden wollen, indem sie sich einbilden, der Ausbruch des Massenstreiks muß eine Überraschung sein, er muß im geheimen, im geschlossenen Stübchen von einer Handvoll Mitglieder der Instanzen ausgeklügelt werden. (Lachen.) Diese Frage ist bereits hier auf derselben Tribüne im Jahre 1905 mit aller erwünschten Klarheit festgelegt worden.[2] Ich zitiere die entsprechenden Worte des Referenten für den Massenstreik auf dem Parteitag in Jena, des Genossen Bebel. Er sagte: „Hier ist nun der Vorschlag des politischen Massenstreiks gemacht worden. Da sagt man uns: Den politischen Massenstreik macht man, aber man spricht nicht davon:“ Und darauf antwortet Bebel: „Es ist eine Torheit, (zu glauben,) eine

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[1] Die nach 1880 entstandenen „gelben“ Gewerkschaften waren von den Unternehmern ausgehaltene Streikbrecherorganisationen, die gegen die revolutionären Arbeiter kämpften. Die Bezeichnung „Gelbe“ stammt aus Frankreich, wo die Mitglieder der Streikbrecherorganisationen die Ginsterblüte als Vereinsabzeichen trugen.

[2] Die auf dem Parteitag der deutschen Sozialdemokratie vom 17. bis 23. September 1905 in Jena beschlossene Resolution bezeichnete die umfassendste Anwendung der Massenarbeitseinstellung als eines der wirksamsten Kampfmittel der Arbeiterklasse, beschränkte allerdings die Anwendung des politischen Massenstreiks im wesentlichen auf die Verteidigung des Reichstagswahlrechts und des Koalitionsrechts.