Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 333

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oberste Parteibehörde aus solchen Tatsachen nicht Anlaß nimmt, eine ernste Prüfung der bisherigen Richtlinien der Taktik vorzunehmen, dann steht es traurig um die Sicherheit in der Vorzeichnung der Linien, auf denen die Politik geführt werden soll. – Dazu kommen ja noch höchst beunruhigende wirtschaftliche Momente. Wir stehen am Anfang einer Krise, die Arbeitslosigkeit wird immer größer, und da haben wir allen Anlaß, als weitblickende Politiker uns zu sagen, daß unsere Politik, unsere Taktik so gestaltet werden muß, daß wir die unvermeidliche Entmutigung und Verzweiflung, die in den Massen immer in den Zeiten der Krise Platz greift, daß wir diese Gärung, diese Unzufriedenheit in das Bett einer zielklaren Kampfstimmung leiten und nicht in eine dumpfe Stagnation ausarten lassen. Parteigenossen, nur durch eine zielklare, scharfe, revolutionäre Taktik kann man den Mut der Massen stählen („Sehr richtig!“), die durch die Krise niedergedrückt werden. Anstatt alles dessen hielt es Genosse Scheidemann für die dringendste Aufgabe auf diesem Parteitag, den Kampf gegen die Nörgler in den eigenen Reihen, gegen die Kritiker, die angeblich künstlich die Unzufriedenheit schüren und an die Wand malen, zu führen. Und diesen Kampf gegen den inneren Feind hat sich Genosse Scheidemann wahrhaftig leicht gemacht. Er hat nicht etwa in Wirklichkeit gegen die vorgebrachten Kritiken und Ansichten gekämpft, er hat es vorgezogen, als ein zweiter Ritter St. Georg den Drachen siegreich zu erlegen, den er selbst erst ausgebrütet hatte. (Große Heiterkeit.) Das, wogegen Genosse Scheidemann hier als gegen die angebliche Auffassung der Verteidiger des Massenstreiks sich gewandt hat, war ein Zerrbild der wirklichen Ansichten, die wir vertreten. („Sehr richtig!“) Speziell was meine Wenigkeit anbetrifft, wenn Genosse Scheidemann auch ohne Namensnennung vielfach mich zu treffen wähnte mit seiner Kritik, so kann ich ihm mit Goethe zurufen: Du gleichst dem Geist, den Du begreifst, nicht mir. (Große Heiterkeit, Unruhe und teilweise Zustimmung.)

Parteigenossen, einige Beispiele für die Verzerrung der Ansichten, die man bekämpft hat. Wenn wir in der Presse und in Versammlungen auf Unterlassungen in unserer jüngsten Politik hinwiesen, wenn wir betonen, daß zum Beispiel eine Partei von unserer Stärke und unserer oppositionellen, revolutionären Stellung bei solchen erstklassigen politischen Begebenheiten wie dem Kaiser-Regierungsjubiläum[1], wie dem Zarenbesuch in Deutschland[2] nicht ruhig zusehen durfte, sondern irgendeine Protest-

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[1] Im Juni 1913 wurde das 25jährige Regierungsjubiläum Wilhelms II. mit großen Feiern monarchistisch-militaristischen Charakters begangen.

[2] Im Mai 1913 war Wilhelm II. anläßlich einer Hochzeitsfeier mit dem Zaren Nikolaus II. und dem englischen König Georg V. in Berlin zusammengetroffen.