Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 294

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seit 1907 und bis jetzt in allen ihren grauenhaften Einzelheiten je erfahren sollte, es kaum glaubhaft finden, daß irgendeine Arbeiterschicht solche Höllenqualen jahrelang überhaupt hat ertragen können, ohne den Idealen der Arbeitersache, ohne der Fahne des Sozialismus nur für einen Augenblick untreu zu werden. Zahllose Verhaftungen, Gefängnisstrafen, Verbannungen, Kriegsgerichte und Galgen, dazwischen eine einfache, als Strafe ins Werk gesetzte Aussperrung, die 40 000 Arbeiter und deren Familien für 6 Wochen brotlos machte, darauf eine allgemeine fortgesetzte Lohnherabsetzung, bis auf ein Drittel der ehemaligen Löhne, bis zum Hungerniveau – dies bei ebenso allgemeiner, dauernder Lebensmittelteuerung –, zuletzt eine schwere Krise der Łódźer Textilindustrie, die auch den elenden Verdienst für einen Teil nur einige Tage in der Woche ermöglichte, die Mehrzahl aber direkt am Hungertuch nagen ließ: alles dies zieht sich in einer ununterbrochenen Kette seit 1907 bis jetzt. Das gesamte Proletariat im Zarenreich hat unter der Konterrevolution schwer büßen müssen, wohl am schwersten und andauerndsten aber das Łódźer Proletariat. Die Löhne waren im letzten Jahr von der ehemaligen Höhe auf 7,50 bis 11 Mark in der Woche für die bestbezahlten, auf 7 bis 8 Mark pro Woche im Durchschnitt gesunken. In den Monaten Januar bis März dieses Jahres erreichte die Arbeitslosenziffer fünfzigtausend. Nach polizeilichen Feststellungen wurden auf den Straßen von Łódź in jenen Monaten täglich 10 Personen aufgelesen, die vor Hunger tot zusammenbrachen, im März gar 30 Personen täglich!

Und all das grauenhafte Elend vermochte den Kampfgeist der Łódźer Textilarbeiter nicht zu brechen, sie nicht zu willenlosen Sklaven des Kapitals zu degradieren, wie es die Unternehmer gehofft hatten. Kaum war im Mai/Juni auf die Krise endlich eine gute Konjunktur gefolgt und die Beschäftigung eine lebhaftere geworden, als die Arbeiter in einer Fabrik nach der anderen auch schon Lohnforderungen stellten. Diese beliefen sich allgemein in der Baumwollbranche auf 20 bis 30 Prozent, in der Wollindustrie auf 25 bis 40 Prozent. Die gute Konjunktur sollte ausgenutzt werden, um wenigstens zum Teil die Scharte auszuwetzen und die verlorengegangenen Errungenschaften wieder einzuholen. Als die Unternehmer diesen selbstverständlichen Forderungen ohne jede Unterhandlung ein schroffes Nein entgegensetzten, traten Tausende sofort in den Streik. Arbeiter, die kaum erst eine jahrelange entsetzliche Hungerkur durchgemacht hatten, traten ohne jede Schwankung wieder in den Kampf, bereit, alle Opfer zu bringen, um nur den brutalen Herrenstandpunkt des Unternehmertums abzuwehren und für eine bessere Zukunft sichere

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