Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 293

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infolge der Verschiedenheit des Kalenders – bis zuletzt noch nicht recht Wurzel fassen konnte und erst im vergangenen Jahre durch eine imposante Arbeitsruhe seinen Einzug in die russische Massenbewegung gehalten hat, fand umgekehrt in Russisch-Polen von Anfang an begeisterte Aufnahme und wurde in Warschau von Zehntausenden durch Arbeitsruhe gefeiert. 1892 trat plötzlich Łódź in den Vordergrund: Am 1. Mai legten 60 000 Textilarbeiter mit der Forderung des Achtstundentags die Arbeit nieder, und die zum erstenmal in Fluß gekommene Bewegung ergoß sich in einen zehntägigen stürmischen Massenstreik, der schließlich durch die zarische Soldateska im Blute erstickt wurde.

Seitdem beginnt in Łódź eine systematische, stille Kleinarbeit, um dem Proletariat die Ziele und die Bedeutung der sozialdemokratischen und der gewerkschaftlichen Organisation beizubringen. Die Früchte sollten sich in der Revolutionsperiode 1905/06 zeigen. Łódź gehörte neben Petersburg, Moskau und Warschau zu den wichtigsten Brennpunkten der revolutionären Bewegung im Zarenreich, voranleuchtend sowohl durch den stürmischen Elan in den einzelnen Treffen mit dem Zarismus wie durch die ausdauernde und disziplinierte Gewerkschaftsaktion gegen das Unternehmertum. Im Juni 1905 errichteten die Łódźer Arbeiter die ersten Barrikaden im Zarenreich. Aber mitten unter diesen Revolutionsstürmen hatten sich die Łódźer Textilarbeiter auch eine ganz nach deutschem Muster ausgebaute Gewerkschaft geschaffen, die im Laufe eines Jahres auf 11 000 beitragzahlende Mitglieder gewachsen war. Unter der Leitung dieses Verbandes gelang es den Łódźer Textilarbeitern auch, bis 1907 im zähen Ringen eine allgemeine, sehr bedeutende Lohnaufbesserung und Verkürzung der Arbeitszeit zu erlangen sowie eine ganze Reihe von Mißständen abzuschaffen. Die Lohnhöhe der Łódźer Arbeiter zu Beginn des Jahres 1907 übertraf bei weitem diejenigen der deutschen Textilarbeiter, namentlich der vogtländischen.

Dann kam der Rückschlag. Nach dem Scheitern der revolutionären Aktion im Dezember 1906 in Moskau, als die bis dahin vorwärtsdrängende Schlachtlinie der Revolution gebrochen war und die politische Aktion des Proletariats im ganzen Reiche ein Fiasko erlitten hatte, als sich die erschütterte, aber nicht niedergeworfene Macht des Absolutismus wieder erholte, begann auch die Racheaktion des Łódźer Unternehmertums. Die nun einsetzenden furchtbaren Leiden der Łódźer Textilarbeiter unter der Doppelrute der zarischen Strafexpeditionen und der kapitalistischen Hungerkuren spotten jeder Beschreibung. Der künftige Historiker wird, wenn er die Geschichte des Łódźer Proletariats

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