Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 288

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stimmen können. Aber was unendlich wichtiger als diese Technik des Kampfes, ist sein politischer Inhalt, sind die angewendete Taktik, die historischen Perspektiven des Kampfes, die Standpunkte und die Beleuchtung der Situation und der weiteren Tendenzen der Entwicklung, die von der Fraktion in ihren Reden wie in ihrer Abstimmung vertreten worden sind. Denn hier handelt es sich um die politische Aufklärungsarbeit, also den Hauptteil, den Schwerpunkt unsrer parlamentarischen Tätigkeit. Nicht durch Dauerreden oder durch Schlagen auf die Pultdeckel sollte revolutionäre Arbeit getan werden, sondern durch den Inhalt der Reden und durch die Abstimmung. In dieser Hinsicht aber hat die Fraktion – abgesehen von der zweiten und dritten Lesung der Wehrvorlage – wenig darauf Bedacht genommen, gerade von den aufgeklärtesten, fortgeschrittensten unsrer Truppen verstanden zu werden.

Freilich, wenn sich unsre Abgeordneten darauf berufen, daß man sie im Falle der Ablehnung der Besitzsteuern im Volke „nicht verstanden“ hätte, haben sie nicht geschulte Genossen, sondern die zurückgebliebenen Schichten: das Bauerntum, die Zentrumsarbeiter, die Gefolgschaft der Konservativen in Ostelbien, im Auge. Merkwürdig genug! Wenn es sich um große Massenaktionen handelt, um den politischen Massenstreik zum Beispiel, dann soll der Grundsatz gelten, daß lediglich organisierte Genossen für uns in Betracht kämen, daß alles, was außerhalb unsrer Organisation steht, hoffnungslos geistesträge und indifferent sei und im politischen Kampfe nicht mitzähle. Handelt es sich aber um die parlamentarische Taktik, dann sollen nicht die organisierten Kerntruppen und ihre Empfindung, ihr Denkvermögen maßgebend sein, sondern der sogenannte „dumme Kerl“ und seine politische Unreife soll als Maßstab für unser Verhalten dienen. Man vergißt, daß uns diese unreifen Schichten zum Beispiel auch Anno 1870 sicher „nicht verstehen konnten“, als Bebel und Liebknecht gegen den Krieg protestierten[1], und daß wir – damals ein kleines Häuflein – dennoch in der Schlußrechnung sehr gut dabei gefahren sind, uns nicht nach den Vorurteilen der Unaufgeklärten, sondern nach unsern eigenen Grundsätzen zu richten.

Die „praktische Politik“, die hier auf den Beifall des großen Haufens rechnet, ist nämlich, wie stets, eine sehr kurzsichtige Politik, die weitere Perspektiven ganz außer acht läßt. Nehmen wir an, daß diejenigen halbaufgeklärten Schichten, die nicht weiter sehen, als ihre Nase reicht, für die der Militarismus eine Geldfrage ist, einen ausreichenden Vorteil darin erblicken werden, den Reichen in die Tasche gegriffen zu haben, und des-

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[1] August Bebel und Wilhelm Liebknecht hatten sich im November 1870 im Norddeutschen Reichstag gegen den Eroberungskrieg und gegen die Annexionsbestrebungen der herrschenden Klassen in Deutschland gewandt und offen ihre Solidarität mit dem französischen Volk bekundet. Sie lehnten die Kredite zur Weiterführung des Krieges gegen die junge französische Republik ab und wurden deshalb von den bürgerlichen Abgeordneten heftig angegriffen und beschimpft.