Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 272

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die Äußerung Gotheins im „Berliner Tageblatt“ vom 7. Juli. An Stelle einer „gründlichen Arbeit“ der linken Mehrheit im Sinne der fortschrittlichen Umgestaltung der Finanzverhältnisse des Reichs zur Schonung der arbeitenden Masse ist hinter dem Rücken der Sozialdemokratie eine Flickarbeit der Liberalen mit der klerikalen Hälfte der reaktionären Mehrheit zur möglichsten Schonung der agrarischen Hälfte dieser Mehrheit zustande gekommen.

Die politische Konstellation wie das praktische Resultat hatten sich also vom Standpunkte der Erwartungen unsrer Fraktion während der zweiten Lesung der Wehrvorlage in ihr direktes Gegenteil verkehrt. Es ist klar, daß die Fraktion, wenn sie sich freie Hand und freie Entschließung gewahrt hätte, demgemäß ihre Front ändern und nunmehr mit aller Kraft gegen das Deckungskompromiß und seine Väter zum Angriff übergehen mußte. Das allein hätte bei der zweiten Lesung der Deckungsvorlage im Plenum die glänzende Position gewahrt, die wir bei der zweiten Lesung der Wehrvorlage eingenommen hatten.

Es kam leider anders. Unsre Fraktionsredner Südekum und David zogen merkwürdigerweise die gänzliche Zertrümmerung ihrer ursprünglichen Pläne gar nicht in Rechnung, sondern behandelten das liberal-klerikale Steuerkompromiß nach wie vor als einen Triumph der Sozialdemokratie! Statt die Nichtswürdigkeit dieser Flickarbeit gegen eine wirkliche Finanzreform unbarmherzig zu zerpflücken, bemühten sie sich umgekehrt, die epochemachende Bedeutung des Wehrbeitrags herauszustreichen und für die Zukunft den deutschen Finanzhimmel voller Geigen zu malen. Anstatt den elenden Verrat der Liberalen und ihren schmachvollen Umfall vor dem Lande, vor den Wählern rücksichtslos zu enthüllen und zu brandmarken, redeten sie den reaktionären Kuhhändlern mit Gewalt ein, daß sie unsre Fraktion nicht ausgeschaltet hätten, daß ihr Pfuschwerk „ein erster großer Erfolg“ der Sozialdemokratie, „eine Abkehr von der früheren Finanzpolitik Deutschlands“, eine erste Verwirklichung des sozialdemokratischen Programms darstelle.

Mit einem Wort: Anstatt die Volksmassen zu warnen, zu ernüchtern, ihre Kritik gegenüber diesen „Besitzsteuern“ und „Opfern“ wachzurufen, sie für die Zukunft mißtrauisch zu machen, haben unsre Redner alles getan, um die Illusionen dieser Massen zu stärken, als erlebten wir den Anfang einer Weltwende, eine neue Ära, in der die Lasten des Militarismus immer mehr auf die Schultern der Besitzenden fallen würden. Der Gesamteindruck der zweiten Lesung der Deckungsvorlage war denn auch in der Tat in hohem Maße verwirrend und deprimierend.

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