Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 271

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Finanzreform gegeben. [Hervorhebung – R. L.] Das Reich muß endlich zu einer wirklichen Besitzbesteuerung gelangen. In erster Linie steht nach wie vor die Erbschaftssteuer. Wenn es in England möglich ist, aus der Erbschaftssteuer jährlich 500 Millionen Mark aufzubringen, dann ist es in Deutschland erst rechtmöglich, 150 bis 200 Millionen Mark aus dieser Steuer zu gewinnen. Als zweite Besitzsteuer ist eine Vermögenssteuer unbedingt erforderlich [Hervorhebung – R. L.] … Nur dadurch bekommt der Reichstag wieder sein Recht der Einnahmebewilligung, nur dadurch kann sein Budgetrecht zu einem wirksamen Mittel wieder ausgestaltet werden.“[1]

Mit dem Hinblick auf eine so aufgefaßte „gründliche Finanzreform“ war auch die Entscheidung unsrer Fraktion für die getrennte Behandlung der beiden Vorlagen begründet und erklärt:

„Die Einführung der Erbschafts- und Vermögenssteuer“, hieß es weiter im „Vorwärts“, „würde zugleich die Grundlage schaffen für die Durchführung einer wirklichen Finanzreform [Hervorhebung – R. L.], die die unsinnigsten und drückendsten indirekten Steuern beseitigen könnte. Gründliche Arbeit ist also notwendig, die um so eher geleistet werden kann, je freier der Reichstag in seinen Entschließungen ist. Die Loslösung der Deckungs- von den Heeresvorlagen ist also in diesem Falle durchaus rationell.“[2]

Die schleierhafte Wendung von der gründlichen Arbeit, die um so eher geleistet werde, „je freier der Reichstag in seinen Entschließungen“ sei, bedeutet auf gut deutsch: Die Liberalen sollten durch die Sicherstellung der Wehrvorlage von dem Drucke der Rechtsparteien befreit werden, erst dann konnten sie mit der Sozialdemokratie in der Deckungsfrage „gründliche Arbeit“ leisten.

Was ist aus diesem Plan geworden? Die Rechnungen auf die Liberalen erwiesen sich wieder einmal als hoffnungslose Luftschlösser, als unverzeihliche Verblendung. Die Liberalen drehten uns eine Nase, liefen, nachdem die sozialdemokratische Fraktion ihnen zuliebe die getrennte Verhandlung der beiden Vorlagen mitbeschlossen hatte, zu dem Zentrum über und brauten mit diesem ein Deckungskompromiß zusammen. An Stelle der großen Erbanfallsteuer und der Reichsvermögenssteuer ist eine Spottgeburt getreten, die eine boshafte Karikatur auf jene beiden Steuern zusammen darstellt. An Stelle der „wirklichen Finanzreform“ ein Gelegenheitspfuschwerk, das selbst nach dem Bekenntnis aus freisinnigem Lager „den Weg zu einer wahrhaften Finanzreform verrammelte“ – siehe

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[1] Der Kampf um die Deckung. In: Vorwärts (Berlin), Nr. 131 vom 29. Mai 1913.

[2] Ebenda.