Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 263

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sierten mit in die Aktion zu ziehen. Die Ausnutzung solcher Situationen ist ein Mittel, die Organisationen der Partei und der Gewerkschaften gewaltig wachsen zu lassen. Die Ergänzung der starken Organisationen muß eine großzügige, vorwärtsblickende Politik sein, sonst werden die Organisationen im stillen verfaulen. („Sehr richtig!“) Die Geschichte der Partei und Gewerkschaften zeigt uns, daß unsere Organisationen nur im Sturm gedeihen. Dann sammeln sich auch die Unorganisierten unter unseren Fahnen. Solche Organisationen, die für den Fall einer Aktion die Unterstützung im voraus auf den Pfennig berechnen, taugen nichts. Sie können den Sturm nicht aushalten. (Beifall.) Das alles muß man sich klarmachen und nicht so ängstlich die Scheidewand zwischen Organisierten und Unorganisierten ziehen.

Wenn verlangt wird, daß der Parteivorstand in Verbindung mit der Generalkommission den Massenstreik vorbereiten soll, so ist zu sagen: Massenstreiks lassen sich nicht machen. Aber das ist notwendig: Wir müssen uns klar sein, daß wir einer Situation entgegengehen, wo Massenstreiks in Deutschland unvermeidlich sind. – Wir haben erst jetzt wieder durch die Annahme der ungeheuren Militärvorlage einen Sieg des Imperialismus erlebt.[1] Nach manchen Hoffnungen, die man in unseren Reihen auf ein Zusammengehen mit den Liberalen setzte, sehen wir, daß diese dem Imperialismus den Steigbügel halten. Wenn unsere Fraktion bei der Deckungsvorlage bedauerlicherweise für die Besitzsteuern eintrat, so war das nichts anderes als die Absicht, zusammen mit den Fortschrittlern und Nationalliberalen den Block der Blauschwarzen[2] auszuschalten. Aber die Liberalen haben uns ausgeschaltet und sich mit den Blauschwarzen verbunden und hinter dem Rücken der Sozialdemokraten ein elendes Pfuschwerk von Besitzsteuer gemacht. Die Schlußabstimmung unserer Fraktion bei der Deckungsvorlage hat eine mächtige Gärung in der auswärtigen Parteipresse und in Versammlungen hervorgerufen. Darüber werden wir auch auf dem Parteitag lebhafte Debatten haben. – Der Triumph des Imperialismus bei der Militärvorlage hat uns die neue schmerzliche Lehre gebracht, daß auf die Liberalen nicht mehr zu rechnen ist. Deshalb ist es notwendig, den Massen die Augen zu öffnen. – Es ist Tatsache, daß unsere Parlamentarier der Illusion lebten, sie könnten mit den Liberalen einen Block gegen die Schwarzblauen bilden, und daß sie damit elend Fiasko gemacht haben. Dieser Sieg des Imperialismus war ein neuer Schritt zur Zuspitzung der Klassengegensätze. – Wir leben in einer Zeit,

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[1] Ende März 1913 war im Reichstag eine Militär- und Deckungsvorlage eingebracht worden, die die größte Heeresverstärkung seit Bestehen des Deutschen Reiches vorsah. Ein Teil der zusätzlichen finanziellen Mittel sollte durch einen außerordentlichen Wehrbeitrag und durch Besteuerung aller Vermögen über 10 000 Mark aufgebracht, der übrige Teil auf die Schultern der werktätigen Bevölkerung abgewälzt werden. Am 30. Juni wurde die Militär- und Deckungsvorlage im Reichstag angenommen. Die sozialdemokratische Fraktion lehnte die Militärvorlage ab, stimmte aber einer einmaligen Vermögensabgabe [dem sogenannten Wehrbeitrag] und einer Vermögenszuwachssteuer zur Finanzierung der Heeresvorlage zu. Der Abstimmung waren scharfe Auseinandersetzungen in der Fraktion vorausgegangen, die damit endeten, daß mit Verweis auf die Fraktionsdisziplin der Widerstand von 37 Abgeordneten unterdrückt wurde. Diese Zustimmung zu den Gesetzen bedeutete das Aufgeben des Grundsatzes „Diesem System keinen Mann und keinen Groschen!“

[2] Der Schwarz-Blaue Block oder Schnapsblock war eine Gruppierung im Reichstag, die sich im Sommer 1909 aus Vertretern der Deutschkonservativen Partei des ostelbischen Junkertums und der klerikalen Zentrumspartei gebildet hatte.