Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 262

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verbunden mit dem Plan, gemeinsam mit der bürgerlichen Linken das allgemeine Wahlrecht zu erringen. Aber die Wahl von 1912 brachte einen völligen Zusammenbruch des Liberalismus[1], und was von ihm noch übriggeblieben war, ging ins Lager der Reaktion über. Da brach ein Sturm der Entrüstung los. Sofort nach den Wahlen tauchte die Frage des Massenstreiks wieder auf. Aber die Leitung der belgischen Sozialdemokratie, die ihre Politik auf das Zusammenarbeiten mit den Liberalen eingerichtet hatte, suchte die Massen zu beruhigen durch das Versprechen, den Massenstreik für später vorzubereiten. Dann begann die systematische Verzögerung des Massenstreiks. An Stelle eines elementaren Ausbruches fing man eine neue Taktik an, man bereitete einen Massenstreik vor, der auf Monate im voraus festgelegt war. Nach einer Vorbereitung von neun Monaten ist endlich, da sich die Massen nicht länger zurückhalten ließen, der Streik zustande gekommen und zehn Tage mit bewundernswerter Disziplin geführt worden. Das Resultat war: Der Streik mußte abgebrochen werden bei der ersten Scheinkonzession, die fast nichts darstellt. Die belgischen Genossen hatten nicht das Gefühl, einen Sieg errungen zu haben. – Wir sehen also, daß der Massenstreik in Verbindung mit der Großblockpolitik nichts als Niederlagen gebracht hat. Angesichts dessen werden wir es ablehnen, wenn man uns die Großblockpolitik im Süden und den Massenstreik in Preußen empfiehlt.

Auf der anderen Seite sagt man, es sei verfrüht, in Deutschland den Massenstreik zu propagieren, denn wir seien dazu weniger reif als das Proletariat anderer Länder. Parteigenossen, wir haben in Deutschland die stärksten Organisationen, die am besten gefüllten Kassen, die zahlreichste Reichstagsfraktion, und wir sollten allein im ganzen internationalen Proletariat nicht reif sein? Man sagt, unsere Organisation sei trotz ihrer Stärke doch nur eine Minderheit des Proletariats. Hiernach würden wir erst dann reif sein, wenn der letzte Mann und die letzte Frau ihren Beitrag im Wahlverein bezahlt haben. Auf diesen schönen Augenblick brauchen wir nicht zu warten. Bei allen wichtigen Aktionen rechnen wir nicht nur auf die Organisierten, sondern darauf, daß diese die unorganisierten Massen mit fortreißen. Wie wäre es denn mit dem proletarischen Kampf, wenn wir bloß auf die Organisierten zählen wollten. – Bei dem 10tägigen Generalstreik in Belgien waren mindestens zwei Drittel der Streikenden nicht organisiert. Daraus ist natürlich nicht der Schluß zu ziehen, daß die Organisation keine Bedeutung hat. Darin liegt ja die Macht der Organisation, daß sie versteht, zur rechten Zeit die Unorgani-

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[1] Bei den Neuwahlen zum belgischen Parlament am 2. Juni 1912 hatten die Klerikalen einen Sieg über die zu einem Block zusammengeschlossenen Sozialisten und Liberalen errungen. Dieses unerwartete Resultat, hervorgerufen durch den Übergang eines Teiles der Liberalen, besonders der Großindustriellen, ins klerikale Lager, rief eine gewaltige Empörung unter der Bevölkerung hervor und führte in verschiedenen Städten zu Unruhen und Streiks.