Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 264

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wo auf dem Boden des Parlaments keine Vorteile für das Proletariat mehr errungen werden können. Deshalb muß die Masse selbst auf dem Schauplatz erscheinen. Die Entwicklung geht dahin, daß der Massenstreik auch in Deutschland nicht von der Tagesordnung verschwinden wird. – Es gilt nicht, den Massenstreik vorzubereiten, sondern wir müssen darauf sehen, daß unsere Politik das Äußerste an Kraft ausdrückt, was in der gegenwärtigen Situation notwendig ist.

Der jüngste Abschnitt unserer Parteipolitik datiert von unserem Wahlsieg im Jahre 1912. Die größten Hoffnungen wurden auf diesen Sieg gesetzt. Ein im „Vorwärts“ abgedruckter Artikel Kautskys sprach davon, daß sich ein neuer Liberalismus bemerkbar mache.[1] – Das war eine sehr verhängnisvolle Illusion, die sich aber aus der für die Stichwahl gegebenen Dämpfungsparole[2] erklärt.

Die Dämpfung ist eine Politik, wie sie nicht sein soll.

Nach der Dämpfung kam die vage Hoffnung auf den neuen Liberalismus, dann die überschwenglichen Erwartungen, die sich an den Sitz eines Sozialdemokraten im Reichstagspräsidium knüpften. Alle diese Hoffnungen sind zu Boden gefallen[3]; aber sie zeigen, daß unsere Politik und Taktik nicht auf der Höhe steht. – Wir haben jetzt den Jubiläumsrummel[4] erlebt und den Besuch des Blutzaren am Berliner Hofe[5]. Diese Gelegenheit hätte benutzt werden müssen zu irgendeiner republikanischen Aktion. Haben wir dazu 4 Millionen Sozialdemokraten, daß wir ins Mauseloch kriechen, wenn der Blutzar kommt? Wie viele Anhänger hätten wir gewinnen können, wenn wir eine Demonstration veranstaltet hätten!

Wenn wir uns den kommenden großen Ereignissen würdig zeigen wollen, dann dürfen wir nicht am verkehrten Ende anfangen und den Massenstreik technisch vorbereiten wollen. Wenn die Verhältnisse reif sind, dann wird sich auch die Taktik des Massenstreiks ergeben. Zerbrechen wir uns nicht die Köpfe mit der rechtzeitigen Unterstützung. – Was notwendig ist, Parteigenossen, das ist, daß Sie aufpassen auf die Parteipresse, damit sie Ihr Werkzeug ist und Ihre Meinung und Stimmung zum Ausdruck bringt. Auch darauf müssen Sie achten, daß unsere Parlamentarier hinter sich eine drängende Masse spüren, damit sie nicht so verhängnisvolle Bahnen betreten wie bei der Militärvorlage. Gestal-

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[1] Siehe Karl Kautsky: Der neue Liberalismus und der neue Mittelstand. In: Vorwärts (Berlin). Nr. 47 vom 25. Februar 1912.

[2] Zu den Stichwahlen im Januar 1912 hatte der Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands mit der Fortschrittlichen Volkspartei ein geheimes Abkommen über gegenseitige Wahlhilfe abgeschlossen. Demzufolge sollte die Fortschrittliche Volkspartei in 31 Reichstagswahlkreisen die sozialdemokratischen Kandidaten unterstützen, während der sozialdemokratische Parteivorstand sich verpflichtete, in 16 Reichstagswahlkreisen „bis zur Stichwahl keine Versammlung abzuhalten, kein Flugblatt zu verbreiten, keine Stimmzettel den Wählern zuzustellen und ara Wahltage selbst keine Schlepperdienste zu verrichten“. (Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. IV, Berlin 1967, S. 395.)

[3] Bei der Wahl des Reichstagspräsidiums zu Beginn der neuen Legislaturperiode am 9. Februar 1912 wurden Peter Spahis (Zentrum) zum Präsidenten, Philipp Scheidemann (Sozialdemokratische Partei) zum ersten und Hermann Paasche (Nationalliberale Partei) zum zweiten Vizepräsidenten gewählt. Über die Zusammensetzung des Präsidiums waren auf Initiative des Vorstandes der sozialdemokratischen Fraktion Besprechungen mit Vertretern der Nationalliberalen Partei, der Fortschrittlichen Volkspartei und auch des Zentrums geführt worden, die innerhalb der bürgerlichen Parteien heftige Meinungsverschiedenheiten hervorriefen und zum Rücktritt des Präsidenten und des zweiten Vizepräsidenten sowie zur Neuwahl dieser Ämter am 14. Februar 1912 führten. Da laut Geschäftsordnung des Reichstags das erste Präsidium nur für vier Wochen gewählt wurde, erfolgte am 8. März 1912 die Neuwahl für die Dauer der gesamten Session. In diesem Präsidium war kein sozialdemokratischer Abgeordneter vertreten.

[4] Im Juni 1913 wurde das 25jährige Regierungsjubiläum Wilhelms II. mit großen Feiern monarchistisch-militaristischen Charakters begangen.

[5] Im Mai 1913 war Wilhelm II. anläßlich einer Hochzeitsfeier mit dem Zaren Nikolaus II. und dem englischen König Georg V. in Berlin zusammengetroffen.