Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 256

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führt, hinter eisernem Gitter und mit Pistolen und Schutzstangen in jeder Hand. Das Ungestüm der unorganisierten Massen ist uns in großen Kämpfen überhaupt viel weniger gefährlich als die Haltlosigkeit der Führer.

Bei näherer Betrachtung sieht also die Anwendung des Massenstreiks, wie sie allein in der Praxis in Betracht kommen kann, viel weniger gemütlich aus, als sich mancher Genosse vorstellt. Mit kleinlichen Mitteln und zaghafter Politik läßt sich ein Kampf auf diesem Maßstab nicht meistern, und nicht die „Vorbereitung“ zu irgend„einem“ Massenstreik liegt uns gegenwärtig ob, sondern die Vorbereitung unsrer Organisation zur Tauglichkeit für große politische Kämpfe, nicht die „Erziehung der Arbeiterklasse zum Massenstreik“, sondern die Erziehung der Sozialdemokratie zur politischen Offensive.

Der Zustand der allgemeinen Unbefriedigung, der sich unsrer Partei in diesem Augenblick bemächtigt hat, ist auch keine neue Erscheinung. Er ist bloß die Fortsetzung der Schwierigkeiten, die uns bereits die auswärtige Politik: die Marokkoaffäre[1], die internationale Aktion gegen den Krieg, bereitet haben. Zieht man das Fazit aus den Erfahrungen der letzten Jahre bis zu der jetzigen Militärvorlage, so kann man sie dahin verallgemeinern: Die Periode der imperialistischen Entwicklung versetzt der Arbeiterklasse immer heftigere Nackenschläge, unsre Aktion ist aber vielfach nicht auf der Höhe, um diese Schläge entsprechend zu parieren.

Das ist auch gar nicht verwunderlich, und es wäre verfehlt, den eigentlichen „Schuldigen“ dieses Zustandes zu suchen. Unser Organisationsapparat wie unsre Parteitaktik sind seit 20 Jahren, seit dem Fall des Sozialistengesetzes, im Grunde genommen auf die eine Hauptaufgabe zugeschnitten gewesen: auf Parlamentswahlen und parlamentarischen Kampf. Darin haben wir das Äußerste geleistet, und darin sind wir groß geworden. Aber die neue Zeit des Imperialismus stellt uns immer mehr vor neue Aufgaben, denen mit dem Parlamentarismus allein, mit dem alten Apparat und der alten Routine nicht beizukommen ist. Unsre Partei muß lernen, Massenaktionen in entsprechenden Situationen in Fluß zu bringen und sie zu leiten. Daß sie dies bislang noch nicht versteht, daß ihr bisheriger Maßstab an Leitung in wichtigen Momenten versagt, zeigt mustergültig die in der Mitte abgebrochene Aktion im preußischen Wahlrechtskampf[2], dank der wir uns heute trotz aller Vertröstungen genausoweit befinden wie vor drei Jahren um diese Zeit. Dieselbe Unfähigkeit zeigen auch gegenwärtig Äußerungen in unsern Reihen, die zu „dem Mas-

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[1] Im Frühjahr 1911 hatte Frankreich den Versuch unternommen, seine Herrschaft auf ganz Marokko auszudehnen und endgültig zu festigen. Dieses Vorgehen nahm die deutsche Regierung zum Anlaß für die Erklärung, Deutschland fühle sich nicht mehr an das Algecirasabkommen gebunden. (Mit dem Algecirasvertrag vom 7. April 1906 war die erste Marokkokrise von 1905 beendet werden. Der Vertrag garantierte Marokko formal die Unabhängigkeit, festigte aber den Einfluß Frankreichs in Marokko, indem er die Polizei des Landes auf fünf Jahre französischer und spanischer Kontrolle unterstellte. Deutschland hatte sich durch seine Abenteuerpolitik außenpolitisch fast völlig isoliert.) Am 1. Juli 1911 entsandte die deutsche Regierung die Kriegsschiffe „Panther“ und „Berlin“ nach Agadir und beschwor durch diese Provokation eine unmittelbare Kriegsgefahr herauf. Das Eingreifen Englands zugunsten Frankreichs zwang die deutschen Kolonialpolitiker zum Nachgeben. Zwischen Frankreich und Deutschland wurde ein Kompromiß geschlossen.

[2] Nachdem der sozialdemokratische Parteivorstand, der Geschäftsführende Ausschuß der preußischen Landeskommission und die Redaktion des „Vorwärts“ im März 1910 beschlossen hatten, den Massenstreik nicht im „Vorwärts“ zu erörtern, um angeblich den Elan der Massen nicht zu hemmen, wurde die Wahlrechtsbewegung nach den Demonstrationen im April 1910 abgebrochen, und die Massen wurden auf die nächsten Reichstagswahlen und den parlamentarischen Kampf vertröstet.