Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 24

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Volk vielleicht von den allerverhängnisvollsten Konsequenzen sein wird, verdanken wir vor allem jenen bürgerlichen Parteien, die durch ihre Unterstützung der unaufhörlichen Rüstungen den deutschen Imperialismus direkt großgepäppelt haben. Allen voran marschiert mit diesem blutigen Mal an der Stirne die scheinheilige Zentrumspartei, die 1900 die denkwürdige Verdoppelung der deutschen Schlachtflotte benutzt hat, um sich als Regierungspartei in den Sattel zu schwingen. Nicht minder fällt aber die Verantwortlichkeit auf den jämmerlichen Liberalismus, dessen stufenweiser politischer Verfall seit einem Vierteljahrhundert unmittelbar an den einzelnen großen Militärvorlagen gemessen werden kann. Das gänzliche Versagen angesichts des vorwärtsstürmenden Militarismus, der die Demokratie, den Parlamentarismus, die soziale Reform mit Füßen tritt und zermalmt, ist das letzte klägliche Ende des bürgerlichen Liberalismus.

Doch gerade weil der jüngste weltpolitische Kurs mitsamt seinem gegenwärtigen Abenteuer nur ein logischer Ausfluß der inneren wirtschaftlichen und politischen Entwicklung der bürgerlichen Klassengesellschaft ist, so hat er, wie diese ganze Entwicklung selbst, eine revolutionäre Kehrseite, die über den unmittelbaren Jammer und das Verächtliche seines momentanen Treibens hinausführt. Der historische Sinn des Marokkokonflikts, auf seinen einfachsten und gröbsten Ausdruck zurückgeführt, ist der Konkurrenzkampf darum, welcher von den Vertretern des europäischen Kapitalismus sich zuerst auf die nordwestliche Ecke des afrikanischen Kontinents stürzen darf, um sie kapitalistisch zu verschlingen – was der Sinn jedes Bruchstücks der weltpolitischen Entwicklung ist. Doch die Nemesis des Kapitalismus will, daß je mehr er von der Welt schluckt, um sein Leben zu fristen, um so mehr untergräbt er seine Lebenswurzel selbst. In demselben Augenblick, wo er sich anschickt, in die primitiven Verhältnisse der weltabgeschiedenen Hirtenstämme und Fischerdörfer Marokkos kapitalistische „Ordnung“ einzuführen, kracht bereits die von ihm geschaffene Ordnung an allen Ecken und Enden anderer Weltteile, und die Flammen der Revolution zucken lichterloh auf in der Türkei, in Persien, in Mexiko, in Haiti, sie lecken still am Staatsgebäude in Portugal, in Spanien, in Rußland. Überall Anarchie, überall rebellieren die Lebensinteressen der Völker, die Mächte des Fortschritts und der Entwicklung gegen das loddrige Pfuschwerk der kapitalistischen Ordnung. Und so wird auch der jüngste Feldzug des Kapitals zu neuen Eroberungen nur ein Zug in jenes Feld sein, in dem das Kapital selbst vom Tode ereilt wird. Das Marokkoabenteuer wird, wie jeder welt-

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