Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 23

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Friedenstendenzen erhoffen und im Ernst auf sie bauen wäre für das Proletariat die törichteste Selbsttäuschung, der es anheimfallen könnte.

Ferner kommt bei der Marokkofrage wieder deutlich der innige Zusammenhang der Weltpolitik mit den inneren politischen Zuständen der Staaten zum Ausdruck. Das Marokkoabenteuer, das Deutschland um ein Haar in einen blutigen Krieg stürzen kann und dessen Schlußergebnis auf jeden Fall die auswärtige Lage und den Kolonialbesitz Deutschlands stark verändern wird, fällt, genau wie vor elf Jahren der Chinafeldzug[1] und später die Algecirasaffäre[2], in die Zeit der parlamentarischen Ferien. Die oberste gewählte Vertretung des deutschen Volkes, der Reichstag, ist ganz ausgeschaltet von den wichtigsten und folgenschwersten Ereignissen und Entscheidungen.

Das persönliche Regiment allein mit seinen Handlangern – selbst bloß ein unverantwortliches Werkzeug in den Händen unverantwortlicher Cliquen – schaltet und waltet mit den Schicksalen von 64 Millionen Deutschen, wie wenn Deutschland eine orientalische Despotie wäre. Die Kaiserreden von Königsberg und Marienburg[3] sind Fleisch geworden: Das Instrument des Himmels spielt in seiner eigenen Selbstherrlichkeit oder wird vielmehr hinter dem Rücken des Volkes von ein paar beutehungrigen kapitalistischen Cliquen gespielt. Der Monarchismus und seine Hauptstütze, das kriegshetzende konservative Junkertum, sind vornehmste Schuldige bei dem Marokkoabenteuer.

Nicht minder kommt aber in dem dreisten Eingreifen der deutschen Diplomatie in den marokkanischen Handel die treibende Kraft der wahnwitzigen militaristischen und marinistischen Rüstungen zum Durchbruch. Es ist nichts anderes als das brutale Pochen auf die seit Jahrzehnten angehäuften Kanonen und Panzerschiffe, die angeblich als Schutzwehr des Friedens notwendig waren, was jetzt die Lenker der deutschen auswärtigen Politik so wagemutig und kriegslustig macht. Diesen „Panthersprung“ der Weltpolitik, der in seiner weiteren Folge für das deutsche

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[1] Im Jahre 1900 hatte die deutsche Regierung die Ermordung des deutschen Gesandten in Peking während des Aufstandes der Ihotuan zum Anlaß genommen, um durch die Entsendung eines Expeditionskorps nach China ihr Vordringen in Ostasien zu sichern. Zusammen mit den Truppen anderer imperialistischer Mächte schlugen die deutschen Interventionstruppen die chinesische nationale Befreiungsbewegung grausam nieder.

[2] Siehe S. 7, Fußnote 3.

[3] Am 25. August 1910 hatte Wilhelm II. in einer Rede in Königsberg das angebliche Gottesgnadentum seiner monarchischen Stellung betont, die nicht von Parlamenten oder Volksbeschlüssen abhängig sei, und seinen Willen zur Stärkung des persönlichen Regiments bekundet. Dieses provokatorische Auftreten hatte im In- und Ausland Aufsehen und Empörung hervorgerufen, so daß seine Rede in Marienburg am 29. August 1910 als eine gewisse Korrektur angesehen wurde.