Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 22

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sind Fragen, bei denen Leben oder Tod für Tausende, das Wohl und Wehe ganzer Völker auf dem Spiele steht. Um diese Frage läßt ein Dutzend raffgieriger Industrieritter seine politischen Kommis feilschen und erwägen, wie in der Markthalle um Hammelfleisch und Zwiebeln gefeilscht wird, und die Kulturvölker warten in banger Unruhe wie zur Schlachtbank geführte Hammelherden auf die Entscheidung. Es ist dies ein Bild von so empörender Brutalität und plumper Niedertracht, daß es mit tiefem Grimm jeden erfüllen müßte, der nicht an dem Schacher direkt interessiert ist. Doch die moralische Entrüstung ist nicht der Maßstab und die Waffe, mit denen man Erscheinungen von der Art der kapitalistischen Weltpolitik beikommen kann. Für das klassenbewußte Proletariat handelt es sich vor allem darum, den Marokkohandel in seiner symptomatischen Bedeutung zu begreifen, ihn in seinen umfassenden Zusammenhängen und Konsequenzen zu würdigen. An Lehren aber für die politische Aufklärung des Proletariats ist das neueste weltpolitische Abenteuer reich.

Die Marokkokrise ist vor allem eine unbarmherzige Satire auf die vor wenigen Monaten von den kapitalistischen Staaten und ihrem Bürgertum aufgeführte Abrüstungsfarce.[1] In England und in Frankreich sprachen Staatsmänner und Parlamente in volltönenden Phrasen erst im Januar von der Notwendigkeit, die Ausgaben für Mordwerkzeuge einzuschränken, den barbarischen Krieg durch die zivilisierteren Formen des schiedsgerichtlichen Verfahrens zu ersetzen. In Deutschland stimmte der freisinnige Chor enthusiastisch in die Klänge dieser Friedensschalmeien ein. Heute erhitzen sich dieselben Staatsmänner und dieselben Parlamente für ein kolonialpolitisches Abenteuer, das die Völker dicht an den Rand des Abgrundes eines Weltkrieges bringt, und der freisinnige Chor in Deutschland begeistert sich ebenso für dieses kriegsschwangere Abenteuer wie früher für die Friedensdeklamationen. Dieser plötzliche Szenenwechsel zeigt wieder einmal, daß Abrüstungsvorschläge und Friedenskundgebungen der kapitalistischen Welt nichts anderes sind und sein können als gemalte Kulissen, die zuweilen in den Kram der politischen Komödie passen mögen, die aber zynisch auf die Seite geschoben werden, wenn das Geschäft ernst wird. Von dieser kapitalistischen Gesellschaft irgendwelche

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[1] Im Februar 1911 hatte die Deputiertenkammer die französische Regierung in einem Antrag aufgefordert, sich im Einvernehmen mit den verbündeten Mächten darum zu bemühen, daß die Frage der Rüstungseinschränkung auf die Tagesordnung der nächsten Friedenskonferenz gesetzt werde. Im englischen Unterhaus waren der Außenminister und der Kriegsminister demagogisch für eine Verständigung mit Deutschland und für eine Rüstungseinschränkung eingetreten, während gleichzeitig der Marineetat erhöht wurde.